Foto: Esther Keil und Michael Grosse in „Wilhelm Tell“ © Matthias Stutte
Text:Andreas Falentin, am 7. Juni 2021
Matthias Gehrt, der Schauspieldirektor am Theater Krefeld Mönchengladbach, ist ein Schüler von Peter Stein. Er liest die Klassiker von der Sprache her, findet in ihr Poesie und Erzählung, konstruiert ein gedankliches Umfeld aus dem Subtext. Das allein kann, auch wenn man das als altmodisches Vergnügen ansehen mag, durchaus beglücken, etwa, wenn man Esther Keil zuhört, der kontrolliert wütenden Gertrud Stauffacher dieser Aufführung.
Eigentlich sollte diese Aufführung bereits vor einem Jahr Premiere haben, coronabedingt ging das lediglich als inszenierte Lesung im Stream. Bereits damals beeindruckten die Brillanz und Sorgfalt im Umgang mit Schillers Versen. Die fertige Inszenierung zeigt, dass sich Matthias Gehrt und sein Ensemble zudem bewusst sind, dass das allein für eine heutige Aufführung von „Wilhelm Tell“ nicht ausreicht. Der Vereinigungsgedanke und der Heimatbegriff in Schillers letztem Drama sind nach dem Missbrauch durch die Nationalsozialisten und ihnen nachfolgende „„volksgemeinschaftliche“ Bewegungen – auch nach der nicht geleisteten Aufarbeitung dieser Vernutzung und Funktionalisierung von Kunst in der Nachkriegsszeit – schlicht nicht mehr dieselben wie in der Entstehungszeit. Man muss sie also neu und unmissverständlich erfinden und neu beleben, wenn man das Stück heute spielen will.
Gehrt macht das sehr bewusst und klar, indem er ein neues Thema setzt: Es geht um die Zerstörung der Natur. Landvogt Gessler und die Habsburger sind die kapitalistischen Kräfte, die durch den Versuch, alles Leben zu ökonomisieren, Lebensgrundlagen zerstören. Die Schweizer, angestoßen von der Chefideologin Gertrud, angeführt von ihrem ausstrahlungsstarken, aber skrupulösen Mann (Adrian Linke), begehren dagegen auf. Zwischen allen steht der Individualist Tell, der nicht gesellschaftlich denken mag, weil er unabhängig bleiben will. Gehrts Inszenierung betont, dass das Handlungsgeschehen ein Bildungs- und Erkenntnisprozess für den Protagonisten ist. Und ein böses Erwachen.
Blickfang der Bühne von Gabriele Trinczek ist ein romantisches Gemälde einer Berglandschaft mit (Vierwaldstädter?) See im Vordergrund. Immer wieder versenken sich die Spielerinnen und Spieler in seinen Anblick. Ansonsten ist der Raum, bis auf wenige, wechselnde Elemente, leer, wirkt kalt, oft grau, korrespondierend mit den unregelmäßig angeordneten, stilisierten Schiefer-Platten, die den Boden bilden. Die Schweizer tragen Trachtenderivate in Ocker-Tönen (Kostüme: Kirsten Dephoff), die Habsburger Anzüge in Königsblau.
Sehr direkt beginnt das Spiel und kommt schnell in Fahrt. Der auf der Flucht befindliche Baumgarten (Raafat Daboul) fällt aufgeregt immer wieder ins Arabische, thematisiert so wie nebenbei das Thema Flucht an sich und behauptet schlüssig Dringlichkeit. Die Adelsnebenhandlung ist komplett, der fünfte Akt fast ganz gestrichen. Versumstellungen und Interpolationen von, von Gehrt und seinem Bearbeiter Thomas Blockhaus mutmaßlich selbst konstruierten, neuen Blankversen akzentuieren das gewählte Thema klug – und schießen manchmal übers Ziel hinaus, wenn etwa, neben der Notwendigkeit von nachhaltiger Lebensführung und dem Klimawandel, auch noch „die Seuche“ ins Spiel kommt. Was zudem nicht funktioniert, ist der Versuch, das stringente Konzept bunt auszupinseln. Da tritt eine „Olga“ auf, groß und blond und dumpf glitzernd gewandet wie die teilnehmenden Damen aus Zypern, Albanien und Moldawien beim ESC, und soll Gesslers Gespielin sein, auf Abstand. Und durch die Umbaupausen tollen putzig-pusselig kostümierte „Schweizer Dämonen“.
Bringt nichts, macht aber auch nichts. Denn das Stück ist gut und das Spiel spannend organisiert. Diese Schweizer, die sich pathetisch vereinigen, aufgrund einer Notsituation und dann beschließen, erstmal abzuwarten, ob sie sich nicht vielleicht, doch, eventuell von selber löst, wirken extrem heutig. Intendant Michael Grosse als Gessler glaubt man jede Zeile, die von Schiller wie den passgenauen auf seine Figur zugeschriebenen neuen Großkapitalistenmonolog. Da steht ein müder Beamter, ein machtgeiler Kleinbürger und ein machiavellistischer Ideologe in einer Person vor uns, jämmerlich und zum Fürchten und ungeheuer sonor ausagiert. Noch stärker Paul Steinbach in der Titelrolle. Er macht uns von Anfang an klar, dass sich seine Figur, so stark und selbstbewusst sie ist, immer über dünnes Eis bewegt. Sobald er aus der privaten Sphäre gerissen wird, gezwungen wird, Teil gesellschaftlicher Vorgänge zu werden, nicht mehr Individuum ist, sondern Partei, ist ihm die Lebensgrundlage entzogen, ist er mit seiner Armbrust nicht mehr Bewahrer, Verteidiger oder Rächer sondern Mörder. Hier dreht die Inszenierung Tells gestrichene Begegnung mit dem Kaisermörder, aus der er eigentlich als deutlicher moralischer Sieger hervorgeht, um 180 Grad. Folgerichtig endet Paul Steinbach vor einem Mikrophon mit Klageversen aus Hölderlins „Hyperion“.
Der letzte verfolgt einen aus dem Theater heraus und beleuchtet vieles, was uns allen in den letzten Monaten widerfahren ist: „Und ich vertrockne in der Mittagssonne“.