Foto: "Jenufa"/De Nationale Opera Amsterdam (Bühne: Lizzie Clachan) © DNO 2018
Text:Regine Müller, am 7. Oktober 2018
Kaum zu glauben, aber wahr: Geschlagene dreißig Jahre lang war Pierre Audi Intendant der Amsterdamer Nationaloper – eine wohl nie wieder zu übertreffende Zeitspanne für eine Opernintendanz. In dieser Zeit hat er es geschafft, das einst wenig bedeutende Haus dauerhaft in der ersten Liga der international tonangebenden Institutionen zu etablieren. Der regieführende Intendant war als Regisseur eher konservativen und mitunter dekorativen Deutungen verpflichtet, ließ aber auch sperrige Handschriften zu und brachte zahllose Uraufführungen heraus. Diese Ära ging nun soeben mit einem Galaabend am 30. September zu Ende, übernommen hat seinen Chefsessel Sophie de Lint, die zuvor sechs Jahre lang Operndirektorin am Opernhaus Zürich an der Seite von Intendant Andreas Homoki war. Weil sie zunächst die von Audi für die nächste Zeit weitgehend geplanten Produktionen ausführen wird, wird sie wohl erst 2020 ihre eigene Handschrift zeigen. Dennoch war es de Lint ein Anliegen – und das lässt auf die Stoßrichtung ihrer zukünftigen Pläne schließen – bei ihrer ersten selbst verantworteten Premierenfeier in Amsterdam zu betonen, dass „Jenufa“ nicht nur eine Oper sei, in der drei tragische Frauenfiguren im Zentrum stehen, sondern auch ein Werk, das auf dem Buch der Dichterin Gabriela Preissová fußt. Und dass mit Katie Mitchell eine Regisseurin am Werk ist, die für ihre Arbeit immer wieder den dezidiert weiblichen Blick reklamiert. Also Frauenpower in Amsterdam!
Freilich hatte Audi bereits mehrfach Mitchell für herausragende Produktionen engagiert, vor allem aber für Zeitgenössisches. „Jenufa“ aber ist nun ihr erstes Repertoire-Werk in Amsterdam, mit dem der Britin ein fürwahr großer Wurf gelingt. Ist das noch Theater, oder ist das schon Kino? Diese Frage drängte sich bei den Arbeiten der britischen Theatermacherin immer wieder auf, denn lange Zeit war ihre Spezialität die raffinierte Verschaltung von Bühnenhandlung mit Echtzeit-Filmen und dem bewussten Ausstellen des „making-of“ dieser Techniken, also mit mehrfachen Verfremdungseffekten. Von derlei technischen Aufrüstungen und Verfremdungen ist nun bei „Jenufa“ nichts zu sehen. Geblieben ist der Hyperrealismus der Ausstattung (Lizzie Clachan), der schon immer ein wesentliches Element von Mitchells Arbeiten war. Die Handlung verlegt Mitchell von einem böhmischen Dorf am Ende des 19. Jahrhunderts in die Gegenwart: Aus der Mühle in der böhmischen Landschaft ist eine moderne Mehlfabrik geworden, vermutlich in Osteuropa, die alte Burya addiert Zahlenkolonnen und Jenufa erledigt am Computer niedere Büroarbeiten. Lizzie Clachan hat zwei niedrige Räume nebeneinander gebaut, links das Büro, rechts eine Werkskantine, in der Mitte ein schmaler Toilettenraum, in dem die heimlich schwangere Jenufa sich übergibt und sich immer wieder dahin zurückzieht, wenn sie einer unangenehmen Situation entgehen will. Dieser schmale Rückzugsraum, der im Bühnenbild des dritten Akts zurückkehrt, bietet auch anderen Figuren Möglichkeiten, sich zu entziehen: um zu weinen, heimlich zu rauchen, oder verzweifelt zu sein.
Mitchell nimmt den psychologischen Realismus Janáceks ganz beim Wort und übersetzt das Drama schnörkellos, aber ungeheuer dicht ins Hier und Jetzt. Jede Geste, jeder Blick beglaubigt Heutigkeit und die Aktualität eines Dramas, in dem es eigentlich um überkommene Vorstellungen von Schande und Amoral geht. Vor dem Hintergrund der prekären Lebensumstände der Titelfigur werden die Nöte und Zwänge, unter denen das Drama seinen Lauf nimmt, aber wieder überraschend plausibel und aktuell. Das Kraftzentrum der ungemein spannenden Aufführung ist die Küsterin der Evelyn Herlitzius: Mit der schwangeren Jenufa in ihrer seltsamen Behausung, die ein Wohnmobil sein könnte in einem kellerartigen Verschlag versteckt hinter geschlossenen Gardinen, wie sie eindringlich den Kindsvater um Hilfe bittet und schließlich in einer atemberaubend intensiven Verzweiflungsspirale zur Mörderin des Babys ihrer Stieftochter wird, ist selten so konzentriert und erschütternd gezeigt worden. Auch Annette Dasch, die als Jenufa debütiert, gelingt ein vielschichtiges Rollenporträt: Vom leichtfertig lebensgierigen, etwas törichten Mädchen über die gedemütigte Verlassene und bis hin zur Geläuterten macht sie eine rasante Entwicklung durch, die sie mit hoher Intensität füllt, ohne in extrovertiertes Überagieren – was bei Janácek leicht unterläuft! – zu verfallen. Einen großen Auftritt hat auch Hanna Schwarz als strenge, durch das Leben verhärtete alte Burya.
Stimmlich ist dieses Frauentrio famos, wenn auch etwas untypisch besetzt, denn Annette Daschs Sopran tönt lyrischer und heller als für diese Rolle gewohnt, auch Evelyn Herlitzius klingt sopraniger als andere Küsterinnen. Hervorragend sind auch die rivalisierenden Männer besetzt: Pavel Cernoch ist ein ergreifender Steva mit flammenden Tenor-Höhen, dessen Wandel vom aggressiven Messerstecher zum hingebungsvoll Liebenden eindrucksvoll gelingt. Norman Reinhardt gibt dem Parvenü Steva angemessene Leichtigkeit, ohne ihn unsympathisch zu zeichnen, auch er brilliert mit sicheren und strahlenden Höhen. Der Rest des Ensembles ist hervorragend besetzt, alle singen ein höchst ein höchst idiomatisches Tschechisch. Tomáš Netopil am Pult des Nederlands Philharmonisch Orkest dirgiert einen hoch differenzierten, durchsichtigen Janácek, der einen geradezu impressionistischen Farbreichtum entfaltet und dessen sogartige Spannung niemals nachlässt. Großer Applaus und Bravi.