Die Kostümierung des Personals in den Zimmerfluchten, mit denen Ausstatter Christian Tabakoff auf der Bühne eine ungefähre Gegenwart signalisiert, macht vor allem Graf Almaviva als ein Mann mit Macht kenntlich, der im Trüben fischt. Das fängt schon während der Ouvertüre an. Susanna kommt nicht immer an dem Mann vorbei, der da in Gedanken versunken auf einem Stuhl sitzt. Dieser Graf ist die personifizierte Übergriffigkeit. So wie es Cherubino mit seinem jugendlichen Charisma zu den Frauen zieht und die ihn ziemlich nah an sich heranlassen, so versucht es der alternde Graf mit seiner Macht und der Gewohnheit des herrschenden Patriarchen. Nur, dass in seinem Falle alle damit beschäftigt sind, sich seiner Zudringlichkeit zu erwehren. Und ob seine Frau (sopranklar melancholisch: Cristina Pasaroiu) in das deklarierte große Verzeihen am Ende auch den plumpen Vergewaltigungsversuch vor der verschlossenen Tür, hinter der er Cherubino vermutet, einschließt, das darf man bezweifeln. Beim vergleichsweise etwas mutlos geratenen Finale vor dem Straßenbahndepot jedenfalls gibt es ein geradezu körperliches Zusammenrücken aller anderen. Nur der Graf tänzelt alleine von ihnen weg. Wer weiß wohin.
Der fabelhafte österreichische Bassbariton Florian Boesch stattet seinen Almaviva deutlich mit einem Schuss Weinstein-Habitus aus. Und dass er am Ende sozusagen das Weite sucht, ist gut nachvollziehbar. Zumal man bis dahin im Dämmerlicht der Zimmer (Licht: Benedikt Zehm) in einem präzisen Kammerspiel einiges von den dunkleren Seiten des Begehrens erfahren hat. Hier verschieben sich sogar die Wände wie von Geisterhand. Und als der Graf in seiner Wut einmal zu derb aufstampft, brechen gar die Bodendielen durch. Es ist also was faul im Hause Almaviva. Vor allem beim Grafenpaar – aber mehr oder weniger abgeschwächt auch bei den anderen drei Paaren im Stück. So ganz einfach ist es mit der Liebe weder bei ihrem ersten Erwachen wie bei Barbarina (Ekin Su Paker) und Cherubino (Patricia Nolz), noch beim abgeklärten Blick zurück wie bei Marcellina und Bartolo (luxuriös: Enkelejda Shkosa und Maurizio Muraro). Die erst 25-jährige Mezzosopranistin Patrizia Nolz ist nicht nur der hormongesteuerte Cherubino. Er schafft es, wie der Statthalter Amors auf Erden, die Szene in ein anderes Licht zu tauchen und für Momente die Bewegungen aller Akteure wie ein Marionettenspieler zu steuern. Genau das versucht auch der Graf am Ende des 2. Aktes einmal; allerdings mit Macht und mit Erinnerung statt mit erotischem Charisma. An solchen Stellen ist die Inszenierung am klügsten.
Aber auch beim Hochzeitspaar muss noch einiges ausgehandelt werden, wie sich bei Figaros Eifersuchtsausbruch hier nicht im nächtlichen Garten, sondern vor den Toren eines Straßenbahndepots zeigt. Robert Gleadow ist als Figaro ein viriler kraftstrotzender Figaro – Giulia Semenzato seine überzeugende Susanna.
Stefan Gottfried setzt am Pult mit den Musikern des Concentus Musicus Wien durchaus beherzt auf zügige Tempi, lässt aber auch der Melancholie (vor allem der Gräfin) Raum. Die Stimmen des von Erwin Ortner einstudierten Arnold Schoenberg Chores werden nur eingespielt. Für Dorfer ist das jedenfalls ein geglückter Seiteneinstieg in das Opernfach! Man kann nur hoffen, dass das Ganze nur der Probelauf für eine Aufführungsserie im Theater an der Wien wird, dem man dann wieder aus den engen Sitzen folgen kann.
Die TV-Premiere von Le nozze di Figaro ist noch bis Samstag, den 5. Dezember 2020 in der ORF-Mediathek und bis Dezember 2021 auf der Klassikplattform fidelio abrufbar.