Doch ausgerechnet die Uraufführung von Pascal Dusapins „Il viaggo, Dante“ im protzigen Grand Théâtre de Provence hat die Chance, als die Festspielproduktion des Jahres 2022 in Erinnerung zu bleiben. Die koproduzierenden Opernhäuser in Paris, Saarbrücken und Luxembourg haben damit schon mal einen erfolgversprechenden Nachspielposten für die Rubrik Novitäten in ihren kommenden Spielplänen sicher.
Literatur-Oratorium
Bei diesem Operatorium (so die Bezeichnung vom Komponisten) und seiner Präsentation trifft alles zusammen, was Oper immer noch so faszinierend macht: Der Stoff knüpft an große Literatur an, die im kollektiven Gedächtnis verankert und mehr oder weniger präsent ist – Dantes „Göttliche Komödie“ gehört nicht nur in Italien dazu. Die 700. Wiederkehr von Dantes Todesjahres 2021 war da willkommene Anregung für viele und vieles, sich seines Hauptwerkes anzunehmen. Für die sieben Bilder des Librettos ließ sich Frédéric Boyer von Dantes „Vita Nova“ und der „Divina Commedia“ inspirieren.
Pascal Dusapin (Jahrgang 1955) gehört zu den erfolgreichsten Komponisten der Gegenwart, ist nicht nur in seiner Heimat Frankreich, sondern auch in Deutschland mit seiner Musik präsent. Seine Oper „Faustus. The Last Night“ wurde 2006 an der Berliner Staatsoper unter den Linden uraufgeführt. Seine „Passion“ 2008 im Théâtre du Jeu de Paume in Aix-ein-Provence. Furore machte seine in die Unterwelt gespiegelte Macbeth-Version „Macbeth Underworld“ 2019 in Brüssel.
Nun hat er mit Claus Guth und Kent Nagano einen Regisseur und einen Dirigenten mit ausgewiesener Affinität zur Opernmoderne als künstlerische Partner an seiner Seite. Der Komponist mit der erkennbaren Vorliebe für den Blick in die Abgründe hinter der sichtbaren Wirklichkeit behandelt das große Orchester nicht als Relikt, sondern kann in seiner musikalischen Sprache etwas damit anfangen. Mit Lust am großen, sich entfaltenden Klangbild, am musikalischen Atmen und der Fähigkeit, seinen Protagonisten Futter zu geben, um Verzweiflung wirklich singend auszudrücken und obendrein eine erkennbare Geschichte zu erzählen.
Weltenschöpfer
Dass Claus Guth und Etienne Pluss (Bühne) für diese imaginäre Reise eines ziemlich heutigen Dante den Raum schufen, ist ein Glücksfall. Zumal sich dieser Regisseur auch auf perfekte Choreografie versteht und die Videos, die rocafilm beisteuerte, keine modische Zugabe sind, sondern in ihrer hoch ästhetischen Perfektion eine bewusstseinserweiternde Wirkung haben. Genauso geht Bühnenkunst! Eine eigene Welt, die in sich stimmig ist und Wirklichkeit und Traum – und sei es eine Höllenfahrt, oder der Moment des Sterbens – so in eins zu setzen vermag, dass man der Suggestivkraft der Musik gar nicht ausweichen kann. Und Nagano animiert das Orchester der Opéra de Lyon zu Präzision und klanglicher Hochform!
Guth ist ein Regisseur mit einem sicheren Geschmack – so dass auch der „Narratore“ (Giacomo Prestia) in seinem Glitzeranzug und mit seiner Showmastergebärde zwar aus dem Rahmen fällt, aber – sozusagen für die Atempause zwischen den Bildern – erkennbar integriert bleibt.
Ihm obliegt ein kurzer, gesprochener Prolog, der vor die sieben Bilder gesetzt ist, die neben der Nummerierung alle eine Überschrift haben, die auf die Herkunft der Geschichte verweist (Die Abreise, Lieder der Trauer, Vorhölle, die neun Kreise der Hölle, Aus dem Dunkel, Fegefeuer und schließlich Paradies).
Weg in die Dunkelheit
Alles beginnt mit einem Video: Es zeigt die Fahrt eines übermüdeten Autofahrers, obendrein mit einer Flasche in der Hand, durch einen nächtlichen Wald. Hier sieht er – ob tatsächlich oder in seiner Einbildung weiss man nicht so genau – immer wieder eine Frau im roten Kleid. Ein schwerer, folgenreicher Unfall ist unausweichlich. Schwerverletzt kommt er auf der Bühne bei sich daheim an. Alles, was folgt, ist jene Reise des Dante, eine Art Selbsterforschung und Leidensweg.
Für die findet Claus Guth im Grunde einfache, aber gerade deshalb wirkungsvolle Bilder. Zum Beispiel wenn sich das gutbürgerliche Arbeitszimmer plötzlich öffnet und dahinter ein ortloser Raum (vielleicht der des Unterbewussten) zutage tritt. Oder, wenn Maria Carla Pino Cury, als Heilige Lucia tröstend auftaucht und deren Pailletten ebenso glitzern wie ihre Spitzentöne. Auch wenn Even Hughes mit langem Haar, Wanderstab und sanftem Bass als sein Reisebegleiter Vergil auf dem Weg ins Paradies auftaucht. Hinreißend: Christel Loetzsch perfekt im Habitus des jungen Dante mit ihrer warmtönenden Trauer.
Die Vorhölle ist eine Art Wartesaal, in der die unschuldig schuldig gewordenen wie Zombies auf den Stühlen an der Wand warten. Dabei ist ihnen Verzweiflung in ihre Körper gefahren und versetzte die in zuckende Bewegungen.
Gewaltige Stimmen
Grandios der kreischende Auftritt, mit dem sich Dominique Visse hier erst als Beatrice im roten Kleid tarnt und dann ohne Perücke ein Exempel von virtuosem Nichtgesang abliefert – die Stimme der Verdammten halt.
Es gibt jede Menge hinreißender, über das vermittelte Gefühl einleuchtende Bilder. Wie etwa der Weg ins Licht des Paradieses. Langsam schreiten sie im Hintergrund, angezogen von einer Kraft, der sie sich nicht widersetzten können und wollen. Nur Virgil bewegt sich rückwärts, gleichsam als der Chronist vom Dienst.
Am Ende findet sich Dante wieder in seinem Zimmer, hat noch einmal die Vision einer Begegnung mit Beatrice (eigentlich Jennifer France) und stirbt in seinem Blut – oder auch nicht. Jean-Sébatian Bou ist dieser vom ersten Ton an überzeugende Sänger und fantastische Darsteller. Der Jubel galt ihm wie allen Interpreten, dem Regieteam und dem Komponisten.