Foto: Szene mit Alexey Ekimov, Anne-Marie Lux, Jacques Malan und dem Ensemble Flüchtlinge aus ”Ein Blick von der Brücke / Mannheim Arrival" am Nationaltheater Mannheim © Hans Jörg Michel
Text:Volker Oesterreich, am 5. Oktober 2015
„Wir alle sind in diese Geschichte verwickelt“, heißt einer der Kernsätze aus Burkhard C. Kosminskis Inszenierung von Arthur Millers „Ein Blick von der Brücke“, geschrieben 1955 über das Thema illegale Einwanderung in New York und dem damit verbundenen sozialen Sprengstoff. Ein 60 Jahre altes Stück, das sechs Nationaltheater-Profis zusammen mit einer großen Statistenschar von Mannheimer Flüchtlingen und Hans Platzgumers Weltmusik-Quintett realisiert haben: als nachdenklich stimmenden Beitrag zum Saison-Leitmotiv „Integration durch kulturelle Teilhabe“.
In Florian Ettis Bühnenbild, einem heruntergekommenen Wohnraum mit zerfetzten Mustertapeten, gerät ein junges Liebesglück in Konflikt mit innerfamiliären Ressentiments. Die ältere Einwanderergeneration blickt auf die nachgereisten armen Schlucker herab. Und da die explosive Gemengelage auch noch mit dem Urproblem des Sexualneids verquickt ist, endet das Drama tödlich. Unter den Ensemblemitgliedern ragen Sven Prietz als kommentierender Anwalt und Anne-Marie Lux als Catherine heraus. Sie ist es, die sich in den illegal eingewanderten Rodolpho (Alexey Ekimov) verliebt, wodurch alles aus der Kontrolle gerät.
Der Kunstanspruch dieser Produktion ist nicht allzu hoch, sehr viel wichtiger ist das Thema, und das wird im zweiten Teil der Doppelpremiere noch stärker zugespitzt: „Mannheim Arrival“, so dessen Titel, ist eine dokumentarische Sammlung von Lebens- und Leidensberichten, die der Kulturjournalist Peter Michalzik nach Gesprächen mit in Mannheim lebenden Flüchtlingen aufgezeichnet hat. Vorgetragen werden sie von den Schauspielerinnen und Schauspielern, die zuvor in der Arthur-Miller-Inszenierung mitgewirkt haben, assistiert dabei von den geflüchteten Zeitzeugen selbst. Ein Schicksal wirkt erschütternder als das andere, aber der Ton bleibt sachlich und klar, heischt nie weinerlich um Mitleid. Eine enorme Leistung, durch die sich dieses Bürgerbühnen-Projekt auszeichnet. Dem Publikum schaudert’s trotzdem, wenn es von einem jugendlichen Afghanen hört, wie die Taliban in seiner Heimat morden und wie er sich nun in Deutschland nur in einer Tugend üben muss: in Geduld. Man hört von Ali aus Somalia, dessen Liebe (ähnlich wie bei Miller) soziale Stammesschranken sprengte. Oder man hört von der hochgebildeten Polina, die als Christin vor dem Terror des IS fliehen musste und nun ihre Kinder so sehr vermisst. Als prominenter Gast verlieh die TV-Schauspielerin Ulrike Folkerts dieser jungen Frau ihre Stimme. Ganz unprätentiös, frei von Starallüren. Während der nächsten Vorstellungen wird sich auch andere Schauspielprominenz ehrenamtlich beteiligen, darunter Ulrich Matthes oder Nicole Heesters. Bleibt zu hoffen, dass Peter Michalziks Flüchtlingsprotokolle bald auch als Buch erhältlich sein werden.
Begonnen wurde das von mehreren Sponsoren geförderte Mannheimer Großprojekt mit einem Vortrag des Migrationsforschers Klaus J. Bade, der präzise herausarbeitete, dass die Flüchtlingsströme für das „demografisch vergreisende Paradies“ namens Europa auch eine große Chance bedeuten.