Foto: Szene mit Frederik Bott, Stefan Willi Wang, Julian Keck und Svetlana Belesova © Marion Bührle
Text:Dieter Stoll, am 25. Februar 2018
Sascha Hawemann inszeniert Borcherts „Draußen vor der Tür“ in Nürnberg
Knapp vor dem Finale, wenn die Anrechte auf letzte Worte verteilt werden, schaut er doch noch persönlich vorbei, der vorher im allgemeinen Elend so sehr vermisste „liebe Gott“. Lieb? Naja! Der bärtige Opa schlurft mit handgebasteltem Kruzifix und „Je suis Jesus“-Shirt unter dem lumpigen Bademantel herbei, kämpft flüsternd um Restbestände von Autorität oder wenigstens das Mikrophon und weist die ungläubige Menschheit darauf hin, dass er es schließlich gewesen sei, der die Pop-Musik nebst dem Videobeamer erfunden habe. Was, wie der Zuschauer unmittelbar zuvor zwei pausenlose Stunden lang persönlich erleben durfte, zur allzeit einsatzbereiten Grundausstattung des zeitgenössischen Theaters gehört.
In der Nürnberger Neufassung von Wolfgang Borcherts Kriegsheimkehrer-Drama „Draußen vor der Tür“, die Regisseur Sascha Hawemann auf großzügig berechneter Sicht-Distanz zum Original von 1946 auf großer Bühne am Schauspielhaus umsetzte, gibt die Klangspur von Live-Musiker Xell den Ton an, lange bevor die Kunstblutkonserve spritzt. Ein Pausenzeichen wie aus dem Volksempfänger verbreitet zu Beginn trügerisch portionierte Stille, dann wummert es am hereingefahrenen Schlagwerk, bearbeitet vom wild drummenden Solisten, dessen Knalleffekt-Sog (Ohrenstöpsel bitte bei den Logenschließern abholen) zwei Techno-Fans mit zuckender Körpersprache folgen. Die drei Herren sind, wie alsbald zu erfahren ist, eigentlich einer – die dreifaltige Ausgabe jenes Beckmann, der nach russischer Kriegsgefangenschaft bei der Heimkehr in den Ruinen von Hamburg vergeblich die Spuren seiner früheren Existenz, wenigstens den Sinn des Überlebens sucht. Bühnenbildner Wolf Gutjahr hat den Bühnenboden mit Blumenerde aufgeschüttet und mit Technik umstellt. Beleuchtungskörper schwingen in die Szene, Lautsprecher-Boxen sind auch bespielbare Kletter-Parcours, überall stehen Wasserflaschen bereit für die kleine Schlammschlacht zwischendurch.
Dass in diesem Stück womöglich nahezu alle Beteiligten Opfer sind, haben schon frühere Regisseure erkannt, sofern sie den Text nicht als historisierendes Leidens-Hochamt verstanden, aber die Verteilung des Elends auf drei Schultern gibt neue Rätsel auf. Ist da doch „Ein Beckmann“ (Julian Keck, der allein jene Not-Brille trägt, auf die im Dialog so oft Bezug genommen wird) neben dem „anderen Beckmann“ (Stefan Willi Wang mit den elektrisierenden Emotionsausbrüchen im Nervenkrieg) und dem „jungen Beckmann“ (Frederik Bott, der seine wütenden Gefühle so lange nur über die Percussion-Schlägel regelt, dass ihn der Partner beim späten ersten Wort erstaunt mit „Oh, er kann reden“ kommentiert), die beim Kuscheln für Momente zur eindrucksvollen Großaufnahme zusammenwachsen. Aber dieses Bild, das er da konstruierte, ist dem Regisseur selber nicht geheuer, weshalb er sich immer wieder demonstrativ absetzt von der ihn offenbar sehr schreckenden Gefahr der Betroffenheit, und auf Randbezirke für satirische Szenen-Schlachten ausweicht. Drei Personen umfassen die eine Rolle, drei weitere teilen sich zehn andere Figuren.
Das ist, manchmal mit dem Text und manchmal gegen ihn, hier überwiegend Personal aus dem Panoptikum. Angefangen mit einer grell ausstaffierten Transvestiten-Schnauze, die mit Gold im Haar und Blech in der Kehle als „die Elbe“ den Selbstmord-Kandidaten, obwohl er keine Familie mehr finden kann, schroff zurückweist in seine Jedermann-Existenz. Stefan Lorch, der auch den mampfenden Oberst und den jammernden Allmächtigen mit komödiantischen Schwingern bearbeitet, ist ebenso mit für die wunderliche Verlängerung des Stückes ins damals noch ferne Wirtschaftswunderland zuständig. Herr und Frau Kramer, die es sich bereits gemütlich familiär eingerichtet haben in der neuen Gesellschaft, drehen gutgelaunt Schnellrunden durch deutsche Schlager-Lyrik der Aufbaujahre, was nach dem schiefen Zitat aus „Wir Wunderkinder“ auf eine geträllerte Schnipseljagd samt Hommage an Caterina Valente hinausläuft.
Starkstrom-Satirikerin Nicola Lembach, die Frau an der Seite, ist aber auch autonom unterwegs. Als Charity Lady verbiegt sie sich im Abendkleid am gekrümmten Mikroständer für einen „wichtigen Text“, nicht ohne vorher mit ihren edlen Schuhen im Humus-Haufen etwas Freiraum plattgetreten zu haben – denn, so sagt sie, was heute nötig sei ist der sichere „Standpunkt“. Wenig später kehrt sie umdekoriert als „Theaterdirektor“ wieder, als der Prinzipal, der das Stückchen Wahrheit aus Dichter-Mund seinem Publikum nicht zumuten will. Da taucht also ein zappelig hysterischer Gründgens-Mephisto in vollem Kostüm & Schminke-Ornat auf, überschwemmt die Bühne mit schwadronierendem „Kunst“-Geplapper und bringt neben Flickenschildt und der Schaubühne samt Edith Clever sogar die Jelinek im Wortschwall unter. Womit geklärt wäre, dass fürs Theater nichts so interessant ist wie das Theater. Für die andere, die näher liegende und in der Ankündigung zur Inszenierung aufgeworfene Frage nach dem Kriegsopfer von heute, dem auf den akuten Flüchtlingsrouten, bleibt kaum Platz. Wolfgang Borcherts Aktualität? Klar, man trägt Radler-Leggings und weist darauf hin.
„Beckmann is back“, bringt der Heimkehrer grade noch unter, der Regisseur kennt halt das RTL-Programm, und während vorne an der Rampe, wo drei malerisch aufgebaute Schnapsflaschen lange auf ihren Einsatz warten mussten, noch um philosophische Abrundung des Abends gerungen wird, beginnt im Hintergrund bereits das Vorglühen zur Premierenfeier. Mephisto spendiert für Gott und die Welt einen Kasten Wege-Bier und die Schauspieler vereinigen sich nahtlos zum ersten Schluck zur Serie von Verbeugungen. War ja alles nur Theater, das applaudierende Publikum nimmt es dankbar zur Kenntnis.