Foto: Szene aus dem 2. Aufzug von „Parsifal“ bei den Bayreuther Festspielen © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath
Text:Andreas Berger, am 28. Juli 2024
Jay Scheibs Bayreuther „Parsifal“-Inszenierung wurde szenisch deutlich nachgeschärft, durch die AR-Brillen entsteht ein zusätzlicher Effekt. Pablo Heras-Casados musikalische Leitung gestaltet einen expressiven Klangraum.
Und plötzlich schießt der Speer direkt auf dich zu, macht erst unmittelbar vor deiner Nase Halt und wird dort von guten Mächten im Schweben gehalten. Wie Parsifal, unser Alter ego auf der Festspielbühne, werden wir nicht von Zauberer Klingsors böser Absicht durchbohrt. AR-Brillen machen’s möglich, dass Richard Wagners in weiter Entfernung stattfindendes Bühnenweihfestspiel in Bayreuth ganz nahe herankommt, zumindest an die AR-Brillenträger.
Aber auch die Oben-ohne-Gucker werden in diesem Jahr besser bedient als im Premierenjahr 2023. Jay Scheib hat seine Inszenierung nachgeschärft und setzt genau bei dieser Speerwurfszene nun wichtige Akzente. Das merkwürdig geknickte Objekt, das den heiligen Speer darstellen soll, es wird von Klingsor auf Parsifal gerichtet, aber von Kundry abgefangen, die sich mutig dazwischenwirft. Sie, die von Klingsor als erotisches Lockmittel eingesetzte Höllenrose, hat also schon etwas verstanden von Parsifals Erklärungen, ist bereits hier zu tätiger Nächstenliebe ermächtigt.
Mehr als nur Sex
Spannend ist auch, wie hier die Schuldfrage neu gestellt wird. Es kann nicht um das bisschen Sex gehen. Bei Scheib hat gleich zu Beginn der Oper auch Gralsritter Gurnemanz sichtbar eine Affäre mit Kundry, gar nicht so weit hergeholt, ist er doch ein lebensweiser Mensch mit vielen Erfahrungen, der die selbstgerechten Jungritter und Knappen maßregelt, als sie über Kundry herziehen.
Auch Parsifal ist offensichtlich zu mehr als einem Kuss bereit, als er im Zaubergarten auf Kundry trifft, spürt dann aber, dass sie nur in immer neuen Sexobjekten ihre Schuld zu ertränken sucht, und diese liegt nicht in der ausgeübten Sexualität, sondern darin, den leidenden Heiland verlacht zu haben – also in ihrer mangelnden Empathie, im Verachten des Schwächeren, Unmännlichen, Unheroischen. Parsifal öffnet ihr dafür die Augen, und diesmal ist sie bereit, den unheldischen Gralssucher gegen Klingsors Angriff zu verteidigen.
Gesangliche Ausarbeitung
Ekaterina Gubanova singt die Partie mit einem schön sinnlich dunklen Mezzo, angenehm wenig vibrierend, sehr geschmeidig, dabei bei Bedarf auch heftig aufgehend und mit starken, sehr direkt genommenen Spitzentönen und expressiven Tonsprüngen. Eine fesselnde Interpretation. Und auch Andreas Schager begeistert mit einer hochdifferenzierten stimmlichen Interpretation des Parsifal. Dass sein Tenor frisch und strahlkräftig klingt, ist vielbeachtet, aber wie er hier mit ganz lyrischen Passagen aufwartet, ist so überraschend wie rührend. Fast engelshaft zart singt er nach Kundrys Taufe das verheißungsvolle „du weinest, sieh, es lacht die Aue“, da sind alle Sünden vergeben, wird das Leben wieder unbeschwert.
3. Aufzug von „Parsifal“ bei den Bayreuther Festspielen. Foto: Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath
Freilich lauert drumherum der Abgrund. Gerade im dritten Akt bildet Mimi Liens Bühne eine Abbauhalde seltener Erden ab, für AR-Gucker ergänzt um Meerestiefen, durch die Plastiktüten, Batterien und Handgranaten wirbeln. Parsifal macht denn auch aus der Gralsenthüllung eine Gralszerstörung: Er zerschmeißt den blauen Kristall, der hier als Gral diente, die alten Abendmahlsgeräte liegen eh schon nutzlos an der Seite, und er steigt Hand in Hand mit Kundry in den (giftigen) Baggersee. Vielleicht können sie neue Achtsamkeit und Umweltbewusstsein säen, in Wagners Gralsland achtet man auch die Pflanzen und Tiere.
Augmented Reality-Zusatz
Nur die AR-Gucker sehen hier auch die librettogemäße Taube des Heiligen Geistes schweben, ohne Brille muss man das Heil aus dem Handeln der Protagonisten schließen. Es fliegt einem auch sonst noch mancherlei digital um die Ohren, viele Totenschädel, Särge, brennende Avatare und Gewehre, was manchem Computerspielrepertoire entspricht, auch allerlei Rosen, Schlangen, Dornenzweige und Laub, passend zu den Orten und Themen der Handlung. Das ist durschaubar assoziativ, manchmal auch banal, verankert das dahinter sichtbar bleibende Abenteuer aber vielleicht hilfreich in der Welt der Nerds. Eindrucksvoller sind die räumlichen Erweiterungen wie Abgründe oder die einstürzenden Mauern des Festspielhauses am Ende des Klingsor-Akts.
Das Festspielorchester
Pablo Heras-Casado vermag mit dem Festspielorchester dazu den Klangraum zu eröffnen. Trotz seiner eher feinzeichnenden und dabei weilenden Vorgehensweise werden die schmerzlichen Akkorde gerade im Vorspiel expressiv gestaltet, unterstützt er die Erzählungen des Gurnemanz flüssig, zumal Georg Zeppenfeld mit unfehlbarem Bass ein spannender Erzähler, kein Prediger ist. Packend gelingt die Kundryszene im zweiten Akt, da wird die Leidenschaft spürbar, eindrucksvoll bauen sich die Chöre in den Gralsszenen auf. Sehr schön auch das impressionistische Austüpfeln der Karfreitagsaue, aber im dritten Akt verlangsamt Heras-Casado das Tempo dann über Gebühr. Was für Derek Welton als Amfortas trotz ausdauernder Stimme strapaziös wird. So fällt ausgerechnet am Ende die Spannung ab.
AR macht Effekt in dieser Inszenierung und ist eine wichtige Farbe im Stilmix der Festspiele. Inzwischen passiert aber auch auf der Bühne so viel Spannendes, dass man in der Produktion auch ohne AR viel entdecken kann.