Foto: Szene mit Moritz Kallenberg (Evangelist) und Ensemble © Matthias Baus
Text:Susanne Benda, am 3. April 2023
Ein Paukenschlag. Und dann noch einer. Noch einer, noch einer. Die Schläge geben den Rhythmus vor: für die Menschen, die auf der Bühne einen Fuß vor den anderen setzen. Langsam, mechanisch, mit gesenkten Häuptern widersetzen sich die Sänger des Stuttgarter Staatsopernchors gehend der Bewegung der Bühne. Zwei Stunden lang wird die Drehbühne fast unermüdlich kreisen, zwei Stunden lang werden Sänger – Kollektive hier, Solisten dort – unermüdlich schreiten; zwei Stunden lang wird die Nebelmaschine fast unermüdlich im Einsatz sein, und die einzigen Gestaltungselemente im weiten Bühnenraum sind Rechtecke, die sich vom Schnürboden senken. Sie teilen den Raum und erleuchten das Dunkel: weiß, blau, orange, rot.
Es ist Passionszeit an der Staatsoper Stuttgart, und der Regisseur Ulrich Rasche hat getan, was der Corona-Lockdown 2021 verhinderte: Er hat Bachs Johannes-Passion ins bewegte Bühnenbild gesetzt. Konkrete Bedeutungszuweisungen gibt es bei ihm allerdings nicht. Zu sehen sind weder Golgatha noch Gethsemane, sogar Kreuze hat er ausgespart. Rasches Passionsgeschichte ist eine Fantasie über das gemeinschaftliche Erleben von Leid, Tod, Verfolgung und Sinnsuche, aber auch von Wut und Hass, alles gezeigt in größtmöglicher Abstraktion.
Musikalisch beeindruckend
Der Abend hat schöne, überzeugende Momente. Die fremdgesteuerte, getriebene Masse Mensch bekommt bei Ulrich Rasche viel Raum und Bedeutung. Auch das Gegeneinander von schwarz und weiß gewandeten Menschen macht Wirkung – wenngleich die Trennung in Anhänger Jesu hier und Gegner Jesu dort die Vorwürfe des Antisemitismus bei Bachs Judenchören eher verstärkt als aushebelt. Aber unter den wenigen Videos, die hier und dort auf die großen Rechtecke projiziert werden, sind nicht nur Hände, die sich strecken, aneinander reiben oder verschränken, sondern da ist (bei der „Erwäge“-Arie) auch ein Rücken, der zwar nicht wie im Text blutgefärbt ist, bei dem sich aber das Rückgrat knochig nach vorne biegt. Nicht nur hier bringt einen der Regisseur auf sehr subtile Weise zur Neudefinition der Rollen. Wer sich die gequälten Körper der Juden in Konzentrationslagern herbeiassoziiert, sieht in den Tätern der Passionsgeschichte auch die Opfer späterer Zeiten. Und so stehen folgerichtig bei den Schlusschören nur noch einheitlich gewandete Sänger auf der Bühne.
Auch musikalisch hört man Beeindruckendes. Moritz Kallenberg, durchgehend schwarz gewandet, gibt einen auf berührende Weise mitleidenden, dabei nie übererregten Evangelisten mit strahlender Höhe, präziser Tongebung und klarer Linienführung: grandios! Shigeo Ishino ist ein hochengagierter Jesus, Andreas Wolf ein genau singender Pilatus ohne jeden Klischee-Verdacht. In den Soloarien glänzen die Sopranistin Fanie Antonelou, die Altistin Alexandra Urquiola, der Bariton Johannes Kammler und der Tenor Charles Sy (bei dem man sich nur etwas weniger Betroffenheitspathos wünscht). Die Choräle singt meist nur ein Quartett.
Eindrucksvoll ermüdend
Um die Koordination zwischen Bühne und Orchester ist es allerdings nicht zum Besten bestellt. Schon beim Eingangschor klappert es, und in den hohen Stimmen, zumal bei den Sopranen, flattert und wabert es zuweilen heftig. Diego Fasolis führt mit dem Staatsorchester Stuttgart einen in historischer Stilistik und Klanglichkeit geschulten Allrounder vor allem bei der Begleitung einiger Arien zu feinen instrumentalen Wirkungen. Aber wer Barockmusik in der Durchsichtigkeit, Agilität und lebendigen Rhetorik von Alte-Musik-Ensembles zu hören gewohnt ist, wird mit den Kollektiven an diesem Abend nicht glücklich.
Auch die Szene befriedigt auf Dauer nicht. Das Dauerschreiten der Akteure, die Farbwechsel, die Rechtecke, die Solistinnen und Solisten, die aus den Kollektiven heraus und wieder in den Hintergrund hineintreten, der permanente Bühnennebel, der etlichen Zuschauern am Ende in die Bronchien fährt: All das ermüdet zunehmend. Und auch wenn sich zum Tod Jesu, den im Orchester wirkungsvolle Generalpausen umrahmen, eindrucksvoll eine riesige Staubwolke von oben auf die leere Bühne hinabsenkt; auch wenn vor dem abschließenden „Engelein“-Choral das letzte rote Rechteck wirkungsvoll in den Schnürboden entschwindet; auch wenn zur final postulierten freudig-sanften Ruhe folgerichtig das Kreisen der Bühne endlich ein Ende hat, wird man den Eindruck nicht los, dass allzu Vieles in dieser Inszenierung weniger Interpretation ist als bloße Dekoration.