Foto: Jupiter (Fabio Lesuisse, l.) versetzt Calisto (Suzanne Jerosme, M.) zu den Sternen. Diana (Fanny Lustaud, r.) und das restliche Ensemble staunen. © Wil van Iersel
Text:Andreas Falentin, am 2. November 2020
Bei der Uraufführung 1651 war „La Calisto“ von Francesco Cavalli, dem Meisterschüler Claudio Monteverdis ein Reinfall. 1970 wurde das Stück dann nach über 300 Jahren für das Glyndebourne-Festival ausgegraben und wird seitdem immer wieder einmal aufgeführt. Die Aachener Inszenierung von Ludger Engels belegt strahlend, warum.
Die Handlung wandelt vor allem auf erotischen Pfaden und bedient sich einer Episode aus Ovids „Metamorphosen“. Was uns heute vor allem interessiert, ist das Menschen- und Gesellschaftsbild. Die Filterblase scheint nämlich tatsächlich keine Erfindung des 21. Jahrhunderts zu sein. Mit einer Ausnahme definieren sich in „La Calisto“ alle Figuren eindeutig über ihre Zugehörigkeit zu einer oder mehreren Gruppen. Deren Zentrum kann ein Star sein (Jupiter, Diana, Pan), ein Ort (der Wald für Pans Gruppe), eine Idee (Keuschheit bei Diana und den Nymphen), ein Status (die Götter) oder eine Lebenseinstellung (benennen wir sie euphemistisch: toxische Männlichkeit). Dem entgegen steht der Entfaltungsdrang jedes einzelnen Individuums. Da wird dann logischerweise auch mal versucht, die selbst gesetzten Grenzen zu sprengen.
Anders gesprochen: Ludger Engels zeigt uns „La Calisto“ als eine von Eitelkeit, Gier und Ideologie getriebene Welt und zwar so leichthändig, elegant und intensiv, dass uns der nur und ohne Hintergedanken die Göttin Diana liebende, allein in der Welt stehende Endymion im Laufe der Handlung immer sympathischer wird – natürlich auch weil James Laing ihn mit etwas kleinem, aber hochmusikalisch geführtem und differenziert und ausdrucksstark eingesetztem Countertenor hervorragend singt und die barocken Affekte mit unaffektiertem Spiel sanft und nachhaltig belebt. Und weil er einfach Hemd und Hose anhat (und hübsche rote Locken). Alle anderen Figuren nämlich werden von dem jungen, hoch talentierten Raphael Jacobs kostümiert, als gelte es mindestens einer prominenten Modenschau. Allein Diana ist in vier prachtvoll-schrille Roben gewandet, von der man eine, am Ende des zweiten Aktes, sogar nur sekundenlang sieht. Bezugsgröße für Jacobs waren offenbar neben der Jetzt- und der lustvoll ausgebeuteten und ironisierten Barock-Zeit die 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Fanden hier doch gesellschaftlich gebrandmarkte Außenseiter erstmals so richtig zu Gruppen zusammen, sei es nun wegen Gender-Dispositionen oder verschiedener Arten von Rebellengeist oder System-Devotion, die in ersten, manchmal sogar getanzten, unter dem Begriff Voguing bekannten „Battles of Realness“ gipfelten. Diese haben mit Sicherheit die ersten beiden Aktfinals inspiriert, in denen sich die verschiedenen Gruppen der Handlung tanzend präsentieren, originell und timingsicher choreographiert von Ken Bridgen, der es vermag, Gruppen eine Bewegungssprache zu verordnen und gleichzeitig die individuelle Körpersprache jedes einzelnen der zwölf Mitwirkenden für das Bühnengeschehen produktiv zu machen.
Auf diesem sinnlichen und geistigen Fundament erzählt Ludger Engels die vielen Geschichten des Stückes klar und mit vielen schönen Details: Die Geschichte der in ihre „Chefin“ Diana verliebte Calisto, die von Jupiter dann im Diana-Kostüm verführt wird; die Geschichte von Diana und Endymion, die sich schließlich auf leidenschaftliche, aber platonische Liebe einigen; die Geschichte der Nymphe Linfea, die eigentlich im Diana-Clan die Keuschheitsideologin ist, dann aber gewaltige Sehnsucht nach einem Mann entwickelt, die unerfüllt bleibt; die Geschichte von Pan und seinem Gefolge, die auf der Suche nach sexueller Befriedigung gewaltbereit durch den Wald ziehen, wobei Pan auch nach chancenlos in Diana verliebt ist; die ewige Geschichte von Jupiters rücksichtslosen Verliebtheiten und Junos Eifersucht. Diese führt dazu, dass die arme Calisto erst (von Jupiter) verführt, dann (von Diana) verstoßen, darauf (von Juno) in einen Bären verwandelt und schließlich (von Jupiter) zu den Sternen versetzt wird.
Engels erzählt all das sehr schnörkellos und dabei erstaunlich poetisch. Ric Schachtebeck hat ihm einen 80er-Club auf die Bühne gestellt, mit riesigem Tresen, vielen leeren Flaschen, stilechtem grauen Teppich, Disco-Kugel und Turntables im Hintergrund. Mit dieser Vorgabe schafft es der Regisseur sogar, die Abstandsregeln auf der Bühne stets einzuhalten, ohne dass man als Zuschauer je das Gefühl hätte, es entginge einem etwas. So spektakuär und organisch in einem war Musiktheater selten.
Das läuft natürlich nur so durch, weil auch blendend musiziert wird. Christopher Bucknall und seine zwölf Musiker, die er vom Cembalo aus leitet, musizieren rhythmisch präzise, mit differenzierter Dynamik und ungewöhnlichen Farben, die auch daher kommen, dass Mitglieder des Sinfonieorchesters Aachen hier mit Alte-Musik-Spezialisten, etwa an Laute und Zink, zusammenarbeiten. Dazu kommt, dass durchgängig auf eine Weise italienisch gesungen wird, als wäre es die Muttersprache sämtlicher Beteiligter. So sei Barbara Diana, Sprachcoach dieser Produktion, an dieser Stelle ausdrücklich gepriesen.
Wie das komplette zwölfköpfige Ensemble auch. Suzanne Jerosme (Calisto) und Fanny Lustaud (Diana) zeigen erneut, wie sehr sich das Theater darüber freuen darf, solche Ausnahmesängerinnen fest im Ensemble zu haben. Frische und Lebendigkeit in Gesang und Spiel treffen hier auf außergewöhnlich attraktives Stimmmaterial und große Bühnenpräsenz. Man begegnet Menschen. Fabio Lesuisse (Jupiter) bleibt dagegen immer Gott, beeindruckend im Falsett (als Diana), im angestammten Bariton momentweise etwas wacklig. Aber was für ein Bühnentier! Akrobat, Komiker, Tänzer… Dazu die furiose Anna Graf als Juno, die schönste schlichte Gesangslinien spinnende Jelena Rakic als Linfea, der elegante Hyunhan Hwang als Merkur, dem die Tenortöne wie kostbare Honigtropfen aus dem Göttermund rinnen. Sein Gegenbild: Der Pan von Takahiro Namiki, dessen Tenor vor Kraft kaum laufen zu können scheint und der doch nie die Linie verliert. Er wird unterstützt von Sylvanus (Pawel Lawreszuk) und einem Satyr (Luca Segger), die sehr individuell gewandet sind und gestalten und die kleinen Ensembles der Pan-Gruppe zu musikalischen Höhepunkten machen.
Vor zwei Jahren hat Ludger Engels in Aachen mit „Il trionfo del tempo e del disinganno“ bereits gezeigt, dass er zum barocken Musiktheater einiges zu sagen hat. Jetzt ist er diesen Weg erfolgreich weiter gegangen – mit einem großen Ensemblestück, das für ein Haus wie das Theater Aachen, gerade in Corona-Zeiten, einen gewaltigen Kraftakt darstellt. Wohl auch deshalb feierte das das Haus bis auf den letzten erlaubten Platz füllende Publikum sein Theater enthusiastisch und lange. Der Rest, ab dem nächsten Tag, ist Lockdown.
Weil dem so ist, trat Intendant Michael Schmitz-Aufterbeck vor dem ersten Ton auf die Bühne und hielt eine feurige Rede. Er jammerte nicht, sondern wies noch einmal auf die Situation der freien Künstler hin und forderte mit klaren Worten eine deutlich höhere Akzeptanz der Relevanz von Kultur in politischen Kreisen. Und er dankte dem Aachener Publikum für seine Treue.
Man kann sich allem anschließen.