Foto: „Die Sumpfgeborene“ an den Sophiensälen © Merlin Nadj Torma
Text:Roland H. Dippel, am 28. März 2021
matthaei & konsorten behaupten, dass sie seit vergangenem Frühjahr mit Unterstützung des Theater Thikwa Kreuzberg und des Theaters in der Parkaue „zur allgegenwärtigen, aber unsichtbaren Präsenz des Barocks im heutigen Berlin“ FORSCHTEN. Die Performance-Reihe mit Einzelbeiträgen wie im Stadtmuseum Berlin am 17. September 2020 wurde durch die coronalen Begleitumstände unterbrochen und zwangsläufig ohne Publikum vervollständigt. Mit den Sophiensälen präsentiert man das Resultat: Eine cineastische Annäherung in zu vielen Minuten. Dabei versprach der Untertitel „Barocknovela“, die Wortsumme von Barock und „(Tele-)Novela“, einiges an Sinn und tieferer Bedeutung. Doch schon zur Halbzeit möchte man mit Johann Sebastian Bach replizieren: „Ich habe genu(n)g!“ – die dem anspruchsvollen Konzeptmaterial angemessene Metaphysik inbegriffen. Diese hätte man allerdings von Jörg Lukas Matthaei und seiner Dramaturgin Milena Kipfmüller bei einem Vorhaben wie „Die Sumpfgeborene“ erwarten können. Beide ignorierten die Kontraste von Licht und Schatten, durch den barocker Stuck erst zu guter Wirkung kommt. Der Aufprall im irdischen Gravitationsfeld verlief demzufolge in Gegenrichtung zu den Himmelfahrten aller barocken Heiligen und Unheiligen.
Bei den gefilmten Streifzügen – neben der Nikolaikirche führten sie in das Tierversuchslabor Lichterfelde und in die Rieselfelder von Gatow – fehlten Verdichtung und sinnfällige Transparenz, vor allem aber die Empathie für ortsunkundige Interessenten. matthaei & konsorten verwechselten zudem „sammeln“ und „forschen“. Gesammelt wurde an Tönen und Bewegungen gar mancherlei, aber während des Pflichtseminars für Recherche- und Zitiermethoden mussten die Beteiligten offenbar jobben. Männer putzen sich mit Rock und Perücke auf, die Maske appliziert mit Liebe zum Detail Vollbärte in Frauengesichter. Auf die wichtige Belüftung gegen toxische und misogyne Aereosole wurde also sorgfältigst geachtet.
Auch ist die Bereitschaft einiger Mitwirkender, sich in Schlamm zu wälzen, höchst anerkennenswert. Hochartifizelle Sprache findet stellenweise zu plumpe visuelle Entsprechung, wenn ein Hammer Wassermelonen zermatscht und Frauenbrust-Imitationen zerfetzt oder befleckt werden. Man gefällt sich mit Attitüden des Unkünstlerischen. Der Performance-Discounter von matthaei & konsorten führt ein überraschend breites Warensortiment an Gutgemeintem und etwas welker Opposition. Während der Herstellung von „Die Sumpfgeborene“ waren gerade barocke Schnäppchenwochen. Text-Implikationen verharmloste man zur Schwer- und Missverständlichkeit. Manchmal gab es auf Displays Gedankenunterstützungen wie „Der Tatortreiniger als Herr im Haus“.
Das perfekt inkludierende Team zeigt sich betreffend Psyche und Physis auf Höchststufe der Sättigung. Zwischen den Körpern spürt man kein Fluidum, keine Attraktivität und erst recht keine Sinnlichkeit. Von den Einzelnen und Vereinzelten geraten die Grenzüberschreitungen der Religiosität, der Leidenschaften und – ja – auch der Willkür ungriffig, ungefährlich, platt. Für die Authentifizierung des Projekts finden sich Zitate aus Quantz‘ Flöten-Studie und Noverres Tanztheorie. Für matthaei & konsorten sind barocker Tanz und Musik fast immer galant und grazil, aber nie auf dem Vulkan. Denn die frenetischen Textstellen aus Daniel Casper von Lohensteins „Agrippina“, dem erstmals 1685 in Breslau veröffentlichten ‚römischem Trauerspiel‘, haben mit Berlin nur insofern zu tun, dass der Schauplatz der „Sumpfgeborenen“ und Lohensteins Erscheinungsort Breslau mit „B“ beginnen. Das orangefarbene Plastiksackerl vom Obstladen leuchtet rot wie Blut aus dem Dekolleté der Mimin. Goethe schrieb in seinem Aufsatz „Zum Schäkespears Tag“: „Französchen, was willst du mit der griechischen Rüstung, sie ist dir zu groß und zu schwer.“
Insgesamt haushalten mathaei & konsorten bei Zutaten wie Einlassungsbereitschaft und dramaturgische Präzision zu sparsam. Eigentlich fatal: Hier spiegelt sich, was aktuell anlässlich der Reformen von Klassik-Sendungen in rbb und WDR lebhaft und streitbar diskutiert wird. Interpreten-Hinweise und genauere Informationen beeinträchtigen in „Die Sumpfgeborene“ das auf subversive Selbstgefälligkeit gepolte Wohlgefühl und die Bestätigung durch die eigenen Blasen in keiner Minute. Korrekt rezitierte Texte geraten als Memorabilien von Extremsituationen zu klamm. Klaus Janeks musikalische Arrangements passen zum Tanztee am Wannsee gleich gut wie zu Flötenkonzerten in Sanssouci. Barock sind bei matthaei & konsorten vor allem die Sprossen auf den Plastikfenstern des Zeltes. Und das kennt man vom Weihnachtscatering am Gendarmenmarkt.
Der Titel „Die Sumpfgeborene“ hat im Gegensatz zu „Spreeathen“ einen Touch von Berliner Schnauze. Das ist allerdings praktizierter Etikettenschwindel, denn mit Attributen wie „Preußenschlumpf“, „Castingallee“ und „Parasitenparadies“ war man schon witziger und schlauer. Die U-Bahn von matthaei & konsorten reicht derzeit weder bis zum Schloss Charlottenburg oder zum Freizeitforum Marzahn, sondern allenfalls bis zum Haltepunkt Kreuzbravberg. Hoffentlich nur pandemie- und saisonbedingt.
Die Inszenierung ist als Video on Demand bis zum 10. April 2021 verfügbar.