Foto: Mozarts "Entführung aus dem Serail" beim Festival d'Aix-en-Provence. V. l. n. r.: Tobias Moretti(Selim Bassa), Jane Archibald (Konstanze), David Portillo (Pedrillo), Rachele Gilmore (Blondchen) und Daniel Behle (Belmonte) © Pascal Victor
Text:Joachim Lange, am 6. Juli 2015
Als Mozart mit seiner „Entführung aus dem Serail“ 1782 auf kaiserlichen Wunsch hin das deutsche Nationalsingspiel erfand und einen Durchbruchserfolg damit hatte, da lag die zweite türkische Belagerung Wiens fast genau einhundert Jahre zurück. Das europäische Trauma hatte sich da längst als modische Schwärmerei maskiert. Im Singspiel wird denn auch die Überlegenheit der Europäer als Sieg der Toleranz verkauft, deren Geist sich Selim Bassa am Ende mit der Freigabe seiner Gefangenen anschließt. Eine Art „Nathan der Weise“ für die Opernbühne. Da hörte man bei den von Osmin beschworenen Barbareien nicht so genau hin. Bis einer wie Calixto Bieito kam und das Ganze (2004 an der Komischen Oper) beim Wort nahm und die Folklore-Unschuld raubte. Für Mozart war der Abstand zum realen Zusammenprall der Kulturen groß genug, um ihn für seine Zeitgenossen mit seiner herzig spritzigen Musik zu umspielen und die Dialoge mit ihrem Liebesschmachten und Treuehoffen (womit die Engländer im Stück die körperliche Unversehrtheit „ihrer“ Frauen meinen) zu kombinieren.
2015 verhält sich die Sache umgekehrt. Da ist das, was Osmins barbarische Entgleisungen beschreiben, so sehr zurück in der medialen Wirklichkeit und als reale Bedrohung des Westens, dass Mozarts Singspiel nicht nur endgültig seine Unschuld verloren hat, sondern auch in einem Dilemma festsitzt. Die Folter- und Mordmethoden, von denen da gesungen und geredet wird, sind ein paar Reisestunden von Europa entfernt zu einer Doktrin geworden, die sich grade einen dazugehörigen Staat zusammen raubt. Und deren Bilder längst in die Freiheit hineinregieren.
Auch in Aix-en-Provence. Also dem idyllischen Ort, wo das kulturverliebte, westlich geprägte Europa ganz bei sich, sozusagen auf Urlaub ist. Dass die Sicherheit der Besucher nach den jüngsten Attentaten in Frankreich spürbar ernster genommen wird, ist das eine. Dass es aber auch Eingriffe in das, was auf der Bühne (noch) gezeigt werden kann, gibt, ist das andere, neue, wirklich Beängstigende. Wer vorbeugend auf eine latente Bedrohung reagiert, nimmt sie ernst. Nicht nur als Gefahr, sondern auch als Willen zur Macht. Michel Houellebecq lässt grüßen. Wobei sich natürlich leicht Intendantenmut vor Barbarenwut oder gegenüber Opfertrauer fordern lässt, wenn man als Besucher im Théâtre de l’Archevéché nur zusieht. Oder, wie jetzt im aktuellen Fall, eben auch nicht.
Ein Eingriff der Festspielleitung in den Schluss von Martin Kusejs Inszenierung hat Wellen geschlagen. Der Regisseur hat seine Verärgerung zu Protokoll gegeben, war am zum Premieren-Applaus vor Ort. Für die Vertrauensfrage hat der Eingriff also nicht gereicht.
Hätte er den Schluss so gelassen, wie er von Mozart und seinem Librettisten Gottlieb Stephanie überliefert ist, dann wäre das heute so verlogen und fern jeder Realität, dass dieses aufklärungsoptimistische Happyend jedem Regisseur um die Ohren fliegen würde. Wobei die Dialogfassung von Kusej und den in seinen Operntexterbemühungen schon bei anderer Gelegenheit überschätzen Albert Ostermaier kaum zusätzliche Sprengkraft beinhaltet und sich vor allem Tobias Moretti als Selim Bassa mit seinem ganzen Charisma für die Wüstenlyrik ins Zeug legen muss. Anstelle des auf absehbare Zeit unmöglichen Happyends daher der finale Amoklauf bei Bieito in Berlin. Oder wie kürzlich in Erfurt aus der Sicht einer türkischen (!) Regisseurin, der Putsch des Fundamentalisten Osmin gegen seinen aufgeklärten Oligarchen Selim in der Türkei von heute.
Auch Kusej bricht natürlich das Ende. In der jetzt gezeigten, entschärften Variante kommt Osmin noch einmal auf die leere Bühnenwüste zurück und wirft dem Bassa die blutigen Kleider von Blonde und Konstanze mit einem vielsagend herausfordernden „Was-guckst-du?“- Blick vor die Füße. Wie man die Schock- bzw. Erkenntniswirkung der an dieser Stelle eigentlich beabsichtigten eingewickelten blutigen Kopfatrappen mit dem allzu direkten aktuellen Bezug zur Wahnsinnstat in Lyon (wo gerade eine Enthauptung nicht nur ganz Frankreich schockte) verrechnet, ist eine Frage, die man wohl tatsächlich nur vor Ort und in der Verantwortung fürs Ganze wirklich beantworten kann. Man wird sehen, ob sie beim Koproduktionspartner, dem Musikfest Bremen, anders abgewogen werden kann und wird.
Doch auch, wenn Kusej die notwendige Kurve in der angedeuteten Variante des triumphierenden Grauens noch gekriegt hat, kann er Mozarts Entführung aus ihrem aktuellen Dilemma nicht befreien.
Die Bühne im Théâtre de l’Archevéché ist voller Sand, doch trotz Bassa Selims Beduinenzelt bleibt es mehr ein Sandkasten, der sich auch trotz atmosphärischen Rundhorizonts (Bühne: Annette Murschetz) nicht wirklich zur metaphorischen Wüste weitet. Hier kommt der Clash der Kulturen, inklusive der Arroganz der Europäer, vor allem durch die denkbar ungeeignetste Kleidung (Kostüme: Heide Kastler) zum Ausdruck. Entführung hin oder her. Barfuß in der Wüste mit nix auf dem Kopf und einer Handbreit Wasser in der Flasche. Wenn Pedrillo (markant: David Portillo) bis zum Hals im Sand verbuddelt wird und sich gerade diverse Internetbilder von Steinigungen und Enthauptungen vor das innere Auge schieben, kommt Belmonte und faselt von der Treue seiner Geliebten, ohne eine Hand zu rühren. Die wiederum hat als Gefangene ein Luxus-Schlafgewand dabei, mit dem sie dann auch gleichmal nachts am Wüstenlagerfeuer alleine rumspaziert, bis die vermummten Kämpfer Selims dem Knochenabnagen eine Runde Frauenbegrabschen folgen lassen. Was vielleicht der Realität in der syrischen Wüste auf der Spur ist, aber nicht der in dieser Oper. Am Objekt der Begierde ihres Chefs rumfingern, das ist auch bei diesem ziemlich lyrisch veranlagten Bassa kaum vorstellbar. Tobias Moretti macht das, Jedermann-erfahren wie er ist, zwar souverän und wird gegen Ende immer besser.
Wenn allerdings eine Filmbotschaft mit den gefesselten Frauen neben dem Kopf Pedrillos, mit Gewehrläufen an den Schläfen der europäischen Geiseln und einem schwarzen Banner dahinter (in der Fassung ohne arabische Schriftzeichen) von Selim Bassa als Missverständnis abgetan wird, dann könnte das der pure Zynismus sein. Was wiederum nicht zu seinem theatralischen Auftritt als blutüberströmter Selbstgeißler mit Rosen passt, mit dem er Konstanze zu ihrer Martern-Arie ziemlich unverblümt emotional erpressen will. Ist das noch ein vergleichsweise starkes Bild, bleibt die Personenführung ansonsten matt. Mit viel Rampe und konventioneller Operngeste. Gesanglich überzeugen vor allem der geschmeidige Tenor von David Behle als Belmonte und Franz Josef Selig mit seinem sonoren Bass, der freilich eine Spur zu gemütlich für seine Botschaften aus der Fundamentalistenhölle klingt. Jane Archibald als Konstanze und Rachel Gilmore als Blonde absolvieren den vokalen Teil ihrer Rollen mit Emphase und fühlen sich beim englischen Teil ihrer Sprechpassagen sichtlich wohler als im deutschen Teil des Sprachenmix. Das Freiburger Barockorchester unter dem jungen Dirigenten Jérémie Roher klingt seltsam gedämpft, so als traute man sich nicht auch mal aufzutrumpfen, was dann in Kombination mit den etwas löcherig wirkenden, verkrampft auf eine Mischung aus Slang und hohem lyrischen Bassa-Ton, zu gefühlten Längen führt.
Ob mit oder ohne Eingriff – es ist eine Entführung, die mehr in den Opernsandkasten führt als in die metaphorische Wüste zu entführen vermag.