Foto: Ensembleszene mit Johan Reuter als Hans Sachs (Mitte) © Thomas Aurin
Text:Joachim Lange, am 14. Juni 2022
In Berlin hat jedes Opernhaus seine „Meistersinger“-Erfahrungen. In der Deutschen Oper liegen sie dreißig Jahre zurück. Dass es an der Lindenoper eine Inszenierung dieses Wagneropus gibt, war ja noch nie ein Hinderungsgrund in der Hauptstadt für eine eigene Neuauflage. Ein wenig Doubletten-Luxus musste an der Spree schon immer sein. Warum nicht auch mit Wagners Nürnberg-Idylle. Dieser Rückwärts-Utopie mit den mehr oder weniger „richtigen“ Menschen. Den etwas seltsamen Meistersingern, die alle nebenbei Handwerker sind und ihre Traditionen pflegen. Und dem zugereisten Walther von Stolzing, der die Regeln nicht kennt, und das mit seiner Naturbegabung ausgleicht. Als er sich damit seine Eva „ersungen“ hat, verschmäht er die Meisterwürde und brüskiert die, die sie verleihen wollen. In der Neuinszenierung von Jossi Wieler, Sergio Morabito und Anna Viebrock, die nicht zum ersten mal als Regietrio gleichberechtigt zusammenarbeiten, macht er sich mit Eva zusammen durchs Parkett auf und davon. Hans Sachs schickt den beiden zwar noch sein „Verachtet mir die Meister nicht“ hinterher. Ihm hören dann aber nur noch die Zuschauer im Saal zu – und eben die Bühnen-Nürnberger, in dieser Inszenierung die Lehrenden und Studierenden einer Musikhochschule von heute in holzvertäfelter Anna-Viebrock-Manier.
Es gehört zu den gelungenen Details einer nicht durchgängig überzeugenden Inszenierung, wie sich Sachs am Ende dabei nicht nur selbst an seiner Rede berauscht, sondern die Massen wie ein Populist regelrecht mitreist. Vergegenwärtigt man sich die laufenden Diskurse in unseren Medien, ist das von beklemmender Aktualität. Immerhin ist den lehrenden Kollegen von Sachs, von wenigen Ausnahme abgesehen, das Entsetzen über diese Art von auflodernder nationaler Euphorie anzusehen. Obwohl Sachs sich selbst anders verhält, wird damit bestätigt, was er vorher verkündet hat: „Verachtet mir die Meister nicht!“
Therapeut statt Schuster
Die Verlegung der Handlung knüpft an den Kunstdiskurs in der Oper an, den Wagner ja so weit treibt, das man sich bald vor allem über die Regelversessenheit amüsiert. In dieser Inszenierung sind dem Schusterpoeten beim Berufswechsel zum Physiotherapeuten für den studierenden Nachwuchs und die Kollegen nicht nur seine Schuhe abhandengekommen. Er hat hier ein handfestes Verhältnis mit Eva, was dann aber irgendwann ziemlich mit der Vorlage kollidiert. Abgesehen davon, dass der (einstige) Schuster meist barfuß geht, fragt man sich, warum am Ende alle mit Kunststofflatschen ausgestattet sind, als wären sie das Personal einer Rehaklinik.
Interessant ist die Deutung der Schlägerei in der Johannisnacht als Nachtkonzert. Beckmesser versucht etwas Neues vorzutragen, während ihm das Publikum reihenweise wegnickt. Es schrickt immer dann auf, wenn Sachs Beckmessers Flügel als Schlagzeug „nutzt“ und ihm zwischen seinen Vortrag trommelt. Dieses „Konzert“ endet wüst, aber nicht mit der sonst üblichen Beschwörung der Dämonen der deutschen Geschichte. Der einzige, der diesmal wirklich zuschlägt, ist Sachs. Mit der Flasche auf den Kopf von Stolzing, um dessen Flucht zu verhindern. Wieso dann Beckmesser im nächsten Aufzug an zwei Krücken geht, erfährt man nicht. Das gehört in das gleiche Inszenierungs-Kapitel wie das ausnehmend hässliche Schuhwerk. Man muss es nicht verstehen.
Jeder mit jedem, drüber und drunter
Streckenweise ist die Inszenierung solide konventionell. Dann gibt es dezente Verweise auf Übergriffe und Machtmissbrauch, die auch an unseren Hochschulen aktuell in die Diskussion geraten sind. Und wenn Veit Pogner (Albert Pesendorfer) den absurden Vorschlag macht, seine Tochter als Siegesprämie für einen Wettbewerb auszusetzen, ist der Künstlernachwuchs zwar sichtlich empört, belässt es dann aber bei einem metaphorischen Kopfschütteln und beschäftigt sich doch bald vor allem mit sich selbst. Jeder mit jedem, drüber und drunter. Sie machen das zwar gut, aber es wirkt dann doch etwas arg aus der Zeit gefallen.
Wenn sich Eva (etwas überaktiv: Heidi Stober) von (ihrem offensichtlich gelegentlichen Liebhaber) Sachs verabschiedet, dann passt das in seiner exzessiven Körperlichkeit zum Treiben der Studenten. Die Grundidee der Inszenierung ist durchaus plausibel, aber schon deutlich packender und sinnlicher umgesetzt worden. Im Detail bleibt vieles diffus, gerät beliebig oder aber übertrieben aktionistisch.
Musikalisch finden Markus Stenz und das Orchester der Deutschen Oper nach dem etwas krachend geratenen Vorspiel ihr Maß. Das „Selig, wie die Sonne“-Quintett ist ein Genuss! Philipp Jekal hält sich als Beckmesser ebenso wacker wie Annika Schlicht als zupackende Magdalena. Als David überzeugt Ya-Chung Huang stimmlich und als Sympathieträger mit seinem Spiel. Die Stimme und Diktion von Johan Reuters Sachs sind Geschmacksache – er verzichtet auf einen allzu salbungsvollen Ton spielt aber mit Vehemenz. Die Überraschung des Abends ist Klaus Florian Vogt. Ein mittlerweile altgedienter Stolzing, der es aber immer noch drauf hat, ohne Abstrich den Walther so zu spielen und vor allem zu singen, dass man auf keinen Ton verzichten möchte.
Am Ende gab es viel Beifall für die Protagonisten und ein Bravo- und Buhkonzert für das Inszenierungstrio wie in alten Zeiten. Eine Wagnerpremiere eben.