Foto: Szene mit und Jeanne Le Moign und Ewa Rataj © Martin Kaufhold
Text:Roland H. Dippel, am 9. Oktober 2023
Am ETA Hoffmann Theater in Bamberg hat Kim de l’Horizon das bekannte Volksmärchen umgeschrieben: In „Hänsel & Greta & The Big Bad Witch“ haben Hänsel und Greta nur eine Mission: die Weltrettung! Wilke Weermanns Inszenierung wird dabei zum atmosphärisch verdichteten Musiktheater.
Die Berner Uraufführung gastierte im Mai 2023 im Deutschen Theater Berlin, nun gab es am ETA Hoffmann Theater Bamberg die deutsche Ersteigenproduktion von „Hänsel & Greta & The Big Bad Witch“. Märchen haben immer Aktualität und so war im ausverkauften Bamberger Studio die Erwartung auf den durch den Roman „Blutbuch“ nicht-binären Literatur-Shootingstar Kim de l’Horizon entsprechend hoch. Dazu jährt sich 2023 Greta Thunbergs erster „Schulstreik fürs Klima“ zum fünften Mal.
In Bamberg sind vier Frauen ein verdoppeltes Geschwisterpaar. Wiebke Jakubicka-Yervis, Jeanne Le Moign, Alina Rank und Ewa Rataj tragen breite lange Zöpfe in Gelb, Blau, Grün und Silber, dazu weite Textilien mit Folklore-Appeal, die ins genderkorrekte Märchenbuch passen wie zum Oktoberfest. Die Big Bad Witch – de l’Horizon nennt sie „eine etwas in die Jahre gekommene Drag Queen“ – spart sich Wilke Weermanns Regie wie die Figuren des großen Hungers und der Erde, eine „überarbeitete Frührentnerin“. Deren Texte überantwortete Weermann den vier äußerst präsenten Darstellerinnen. Also Hänsel, dem „Hochsensiblen Sensörchen“, und Greta, der „autistischen Weltretterin“. Das Spielquartett spricht mit variablen Stimmen, Florian Walter sekundiert vom Band.
Eine trügerisch bunte Naivität
Der bei den Brüdern Grimm dunkle und furchteinflößende Märchenwald ist weg. In de l’Horizons wortgewandter Dystopie haben alle Hunger, gesteigert noch durch die Droge Vitalin. Die zu deren Anbau nötigen Monokulturen lassen Bäumen keine Chance. Hauptmerkmal von de l’Horizons viele Themen- und Theater-Trends aufschnappendem Text ist seine trügerisch bunte Naivität. Vor einem gemalten riesigen Atommeiler, neben einem schlichten Wohnwagen ruft seine Wahrnehmungsstudie zur Weltrettung. Lara Scherpinskis Prospekt ermöglicht Videofenster, mit denen man aus dem Hexen-Wohnwagen hinaus und in diesen hineinblicken kann, aber auch Erinnerungsbilder an die Elterngeneration. Letztere nur in Schwarzweiß.
Die Partisanenmittel der verdoppelten Hänsels und Gretas sind Bündnisse und Unruhestiften. Aber niemand folgt und macht mit. Dabei ist es allerhöchste Eisenbahn zur Weltrettung. Deshalb wenden sich die Figuren an andere Erdbewohnende. An Wesen wie die in Symbiosen lebende Flechte, an Steinfresserschnecken und den vom Aussterben bedrohten Steinschmätzer-Vogel. Das wird in hundert Minuten mit starken und schwachen Parolen in einem überzeitlichen Mix aus archaischer Sprache mit Neusprech durchdekliniert.
Kim de l’Horizons Debüt „Blutbuch“ gilt bereits ein Jahr nach seinem Erscheinen als wichtiger Bildungsroman des 21. Jahrhundert. Die Sprache des 1992 in Bern geborenen Autors kitzelt an der Kontrastbreite zwischen poetischer Archaik und Drag. Dazwischen wird de l’Horizons Sprache zum voll elastischen Trampolin, aus dem collageartige Wortreihen vom tieftraurigen Volkslied „Brüderlein fein“ bis Sibylle Berg hochschnalzen. Mehr virtuos als sprachgewaltig und manchmal mit Redseligkeit. Zum Hybrid aus dem gerade begonnenen posthumanen und postkritischen Zeitalter gehört eine Litanei auf das Verschwinden des Journalismus und des Konsumüberflusses. De l’Horizon predigt Kargheit, ist dabei verschwenderisch mit seiner Sprachfülle. Die Figuren und Farben auf der Bühne treiben das nicht ins Schrille, sondern ins Rituelle. Dieses Post-Märchentheater wird zum Ort der Besinnung, in Deutschland vielleicht sogar noch mehr als in de l’Horizons Heimat. Denn in den schwyzerdütschen „i“-s und Endungen hört man hier vor allem das Liebliche, weniger das Schroffe.
Macht Arbeit das Leben nur kaputt?
Auf den vermeintlich naiven Holzweg führt erst recht Wilke Weermanns Inszenierung, die Constantin Johns Musik und Sounddesign zum atmosphärisch verdichteten Musiktheater aufbockt. Das gelingt über die Art und Weise, wie die vier Schauspielerinnen lachen, artikulieren und sich androgyn bewegen. Hier ist alles im Fluss, nur das Licht etwas weniger. Schriften und Aktionen der poststrukturalistischen Wissenschaftlerin Donna Haraway bilden das theoretische Schutzdach gegen das ökologische Versagen der vorletzten Generationen. Die korrigierte Bedeutung des Hexens meint jetzt nicht mehr verfemtes Zaubern, sondern das Wissen über alle Arten und ihre Verflechtungen. Weermann und John vermindern die Themenlast und bringen den Text in sanften Fluss. Das gab’s bereits vor einigen Jahrzehnten: Damals wurden böse Märchenfiguren auf gut getrimmt, damit Kinder Vertrauen in das Positive gewinnen. Und schon früher betrachtete man oppositionelle Queerness als bessere Alternative zum kapitalistischen Vereinzelungs- und Härtungsprozess.
Ein Vorwurf schmerzt allerdings: Aus Perspektive von „Hänsel & Greta“ macht Arbeit das Leben nicht süß, sondern nur kaputt. Denn de l’Horizons Kritik aus Perspektive der vorerst letzten Generation an ihre Eltern betrifft neben deren Freizeit-, Konsum- und Optimierungswahn auch deren überlange Arbeitseinheiten als Beschleunigung der Klimakrise. Fazit also: Für die jetzt Dreißigjährigen besteht das Leben im Idealfall aus „Fridays for Future“ und einer Woche voller Sonntage zum Verbünden und Unruhestiften. Warum das so sein muss, bestätigt die jüngste Produktion des ETA Hoffmann Theater mit suggestiven Klangkulissen, farbigen Worten und einem hohem Bewusstseinsgrat für die Klima-Apokalypse. Einhellige Applaus-Zustimmung.