Foto: "Wer ist Walter" am Theater Bonn © Thilo Beu
Text:Guido Krawinkel, am 6. Oktober 2018
Der Blödelbarde hat’s gewusst: „Walter war nicht groß, war eher klein, trotzdem glaubte er von den Kleinen einer der Größten zu sein“, sang einst Mike Krüger. Vielleicht war es ja dieser Wunsch, einmal groß zu sein, der Walter dazu trieb, sich einfach aus dem Staub zu machen. Es passt allerdings nicht ins Bild: verschwinden. Einfach so und radikal. Trotzdem, Walter tut es. Ist weg. Und jetzt? Keiner weiß es, aber alle reden mit. Alle suchen ihn, aber keiner weiß etwas. Ausgestiegen, abgehauen, unsichtbar, hat sich Walter der Gesellschaft entzogen, verweigert sich dem zivilisatorischen Konsens, bricht aus. Das irritiert, macht ratlos, wirft Fragen nach dem „Warum“ und dem „Was jetzt“ auf.
Autorin Ariane Koch hat sich daran gemacht, diese Fragen aufzuwerfen. Ihr Stück „Wer ist Walter“, das in der Werkstatt des Theaters Bonn uraufgeführt wurde, ist der Versuch, die gesellschaftlichen Mechanismen zu entlarven, die aus einem bloßen Aussteiger einen Mythos machen können. Und einen Helden, den alle suchen, dessen Motive alle entschlüsseln wollen, den alle irgendwie zu verehren scheinen. Kochs Text ist eine exaltierte Mischung aus unterschiedlichsten zu beobachtenden Tendenzen, angefangen von der nicht selten unkalkulierbaren Eigendynamik gesellschaftlicher Narrative über das Verhältnis des Menschen zur Natur bis hin zu der Beobachtung einer zunehmenden Entfremdung einer Gesellschaft, die immer anonymer wird. Vor allem wirft er nämlich die Frage auf, wie gut man seine Mitbürger eigentlich kennt, denn scheinbar wissen die Protagonisten in diesem Stück vor allem eines: wie wenig sie wirklich über Walter wissen.
Simone Blattner inszeniert das so gut wie alles offenlassende Textkorpus, der von mindestens drei bis hin zu 20 Darstellern gespielt werden kann, mit viel Sinn für Tempo, Situationskomik und absurde Situationen, was durch Bühne (Martin Miotk), Kostüme (Andy Besuch) und Musik (Christopher Brandt) unterstützt wird. Letztendlich hängt es aber am Ensemble, das in Bonn fünf Schauspieler umfasst und mit Lena Geyer, Ursula Grossenbacher, Lydia Stäubli, Gustav Schmidt und Klaus Zmorek echte Typen bieten kann, die den Text schauspielerisch auf die Spitze treiben.
Aber warum verschwindet Walter eigentlich? Und wer ist nun Walter? Der Prototyp eines Zivilisationsverweigerers? Der geschickte, auf seine „15 Minuten Ruhm“ hoffende Profiteur gesellschaftlicher Hypes? Oder doch nur ein armes kleines Würstchen, ein Phantom, ein Zivilisationsmythos, der ohne eigenes Zutun zum Selbstläufer wird? Auch nach 75 Minuten ist man in der Werkstatt des Bonner Schauspiels diesbezüglich nicht wirklich schlauer. Aber zumindest wurde man gut, temporeich und durchaus hintergründig unterhalten. Wer weiß, vielleicht findet der Mob ja doch noch heraus, wer Walter ist bzw. war. Oder vielleicht sind wir ja alle ein bisschen Walter. Wer weiß…