Foto: Typisch Marthaler: Alle warten auf den Zug, aber der kommt von hinten - und verschlingt das Ensemble © Walter mair / Ruhrtriennale 2018
Text:Andreas Falentin, am 18. August 2018
Christoph Marthaler unterwirft sich der Musik von Charles Ives bei der Ruhrtriennale – und triumphiert mit ihr!
Die gewaltigen Abmessungen der Bochumer Jahrhunderthalle machen etwas mit Marthalers Theater. Die Poesie scheint größere Kreise zu ziehen, der Charme erscheint noch brüchiger, inniger, zurückgenommener. Zumal Christoph Marthaler sich hier kein Stück anverwandelt oder einen Abend selbst komponiert hat. Die Hauptperson in „Universe, Incomplete“ ist die Musik von Charles Ives, dem Urgrund der nordamerikanischen, klassischen Musik. Marthaler liefert sein Theater dieser Musik und diesem Raum aus. Und gewinnt einen einzigartigen Abend.
Wie viele Marthaler-Abende beginnt auch dieser mit Stille. Menschen stehen an einer Schlange vor einem Wartehäuschen und werden eingelassen, einer nach dem anderen, mit quälenden Abständen. Als die Schlagwerke einsetzen – es sind 20 Perkussionisten an der Produktion beteiligt – , geht der Wärter ins Kino, das heißt er setzt sich im Hintergrund auf eine Tribüne mit roten Kinosesseln und schaut ins für das Publikum unsichtbare Flimmern. Wir erleben mehr als er. Neben dem wilden Percussion-Gewitter, dass von allen möglichen Plätzen, auch hoch über uns, auf uns eindrischt, gibt es auch immer wieder volksmusikhaft Romantisierendes, fast Liebliches zu hören. Christoph Marthaler und seinem Landsmann und musikalischen Leiter Titus Engel scheint es vor allem um diese Ambivalenz zu gehen. Nach einem fast „normalen“ Marthaler-Viebrock-Beginn – ein Haus fährt über Schienen, die Performer tanzen weit im Hintergrund und nur mit den Armen, ein Lied erklingt – verweist die Inszenierung immer wieder auf den Charakter der Musik. Sei es durch Bühnenelemente wie den hereinschwebenden T-Rex, furchterregende Naturkraft, aber mit amputiertem Schwanz und linkem Vorderbein, oder durch die Abläufe. Zu denselben Klängen, zu denen eben noch wie befreit Pirouetten gedreht wurden, scheinen die Performer jetzt Opfer der Schwerkraft zu werden, aus fröhlich überraschten Tanzpaaren werden aneinander klebende Klumpen. In einer langen Szene sind die zwölf Spieler zu Paaren gekoppelt. Jeweils einer geht hinter dem anderen her, tippt ihm auf den Rücken, will kommunizieren. Der andere geht stur geradeaus. Wenn man sie wieder sieht, haben sie die Rollen getauscht, aber der Vorgang bleibt.
Das ist alles sehr klar, sehr wenig rätselhaft. Aber es schließt die Musik auf, die Ives‘ titelgebende unvollendete Symphonie enthält, aber auch Märsche und Teile aus der 4. Sinfonie und dem großartigen 2. Streichquartett, wo jene beschriebenen Ambivalenzen zu einer dichten und eigenständigen, sehr männlich wirkenden Tonsprache verwoben sind. Die Bochumer Symphoniker und das Spezialensemble Rhetoric Project hören einander beseelt zu, spielen frei und präzise unter Titus Engel, der mehrfach quer durch die Halle unterwegs ist. In der diese Musik übrigens, in weiten Teilen unverstärkt, fantastisch klingt. Besonders bei den Liedern, sämtlich von Ives, die herzzerreißend sanft klingen, ohne – das übliche Marthaler-Wunder – auch nur ansatzweise kitschig zu sein.
Dazu kommt Anna Viebrocks zurückhaltende, extrem stimmige Raumgestaltung: zwei kleine Tribünen, eine lange Tischreihe im Hintergrund parallel zu den Bahngleisen, eine Fußgängerbrücke über einer Treppe, ein paar hübsche Kleinigkeiten und genug leerer Raum. Dazu kommt die fantastische Performer-Truppe mit Marthaler-Veteranen wie Ueli Jäggi und Jürg Kienberger und aufregenden Künstler-Persönlichkeiten wie die junge Filmschauspielerin Liliana Benini, die Jazz-Sängerin Tora Augestad, die Choreographin Altea Garrido oder die Schauspielerin Berangére Bodin. Und der feine Witz Marthalers, der fantastisch zu dieser Musik passt, wenn etwa der Tubist, der von ferne an Karl Marx erinnert, sich nicht zwischen den zwei Orchestern entscheiden kann, ständig hin und herrennt und nie ans Ziel kommt wie der sprichwörtliche Esel zwischen den Heuhaufen. Und diese Musik, die nur mit den ganz großen Themen umzugehen scheint, dabei mal ganz spirituell ist, sich genügsam ins Schicksal zu fügen, eine höhere Instanz anzuerkennen scheint, dann aber immer wieder wild aufstampft dagegen, Chaos, Wut, Kraft herbeiwünscht, eine Ambivalenz, wie sie etwa Dylan Thomas in seinem wohl berühmtesten Gedicht formuliert hat: „Do not go gently into that soft night!“ Wir arme Leut‘! Wir schöne Leut‘! Der Marthaler Christoph, der kennt uns.