Foto: Daniel Johansson (Tannhäuser), Karl-Heinz Lehner (Hermann) und Heiko Trinsinger (Wolfram von Eschenbach) © Forster
Text:Ulrike Kolter, am 25. September 2022
Im Grunde ist es ja allzu menschlich, dass bei all den Liebesaktivitäten im Venusberg irgendwann der Nachwuchs da ist. Und so nimmt die Tochter von Tannhäuser und Venus in Paul-Georg Dittrichs Neuinszenierung des „Tannhäuser“ eine fast zentrale Rolle ein: stumm beobachtend, mal tröstend – und am Ende gar vermittelnd zwischen den beiden diametralen Frauenfiguren Venus und Elisabeth, zwischen denen sich ihr Vater zeitlebens nicht entscheiden konnte.
Die Produktion des Essener Aalto-Theaters hat seit 2020 auf eine Premiere gewartet, nun eröffnet sie fulminant die Saison der neuen Opernintendantin Merle Fahrholz. Paul-Georg Dittrich schickt seinen Tannhäuser darin nicht nur durch unterschiedliche Kunstepochen, sondern exerziert in drei Akten auch verschiedene Regie-Prinzipien durch. Dafür haben ihm Pia Dederichs und Lena Schmid (gemeinsam verantwortlich für Bühne und Kostüme) drei sehr gegensätzliche Szenarien gebaut.
1. Akt: Das Familien-Idyll der Venus
Venus‘ Liebesgrotte wird symbolisiert durch eine riesige, umgestürzte und zerbrochene Büste der Venus von Milo, einer hellenistischen Skulptur, auf die Live-Videos projiziert werden: OP-Szenarien mit Pipetten und Ultraschall oder ein Fötus, der leblos aus einer Gebärmutter geschält wird. Davor springen Tannhäuser und Venus liebestoll herum, die Göttin ganz menschlich mit Kinderwagen, in den der Held sein „Dir töne Lob! Die Wunder sei‘n gepriesen…!“ hineinsingt. Ja, so ein Kind ist ein Wunder – und das wirkt keineswegs lächerlich. Doch bereits hier fordert die filmische Ebene (Videos: Vincent Stefan) dem Publikum viel ab mit mahnenden Parallelerzählungen zum Topos Fruchtbarkeit und Menschsein. Bis in den dritten Akt hinein werden Videos und TV-Monitore narrative Ebenen ergänzen, die es nicht immer braucht.
Ein junger Hirt in federflauschigem Engelskostüm erscheint, Mercy Malieloa (als Neuzugang im Essener Ensemble) gibt ihn mit glockenhellem Sopran und hinreißender Spielintensität. Dass die Pilger in silberglänzenden Ganzkörperkostümen dann von fahrbaren Metallgerüsten herab singen, gehört zu den weniger sinnstiftenden Aktionen des Abends.
2. Akt: Großes Ensembletheater und Philosophen-Allegorie
Im zweiten Akt dient dem Bühnenraum Raffaels „Schule von Athen“ als treffliche kunsthistorische Vorlage, nur, dass nicht Platon und Aristoteles im Zentrum des Bildes stehen, sondern sich die Minnesänger in der monumentalen „teuren Halle“ zum Sängerstreit versammeln, der Chor dahinter mit Platon-Masken vorm Gesicht und Steintafeln in den Händen. Wie Paul-Georg Dittrich hier interagieren lässt, der Chor synchron sich zu den Minneliedern im Takt wiegt, kommentierend gestikuliert oder lacht, ist ganz großes Theater! Und die bildliche Allegorie der großen Philosophenschule zur Minnesänger-Tradition hat durchaus seinen Reiz. In dieser gesichtslosen, homogenen Wartburggesellschaft kann Tannhäuser nur irr‘ werden, was nach hitzigem Sängerwettstreit dann auch passiert
3. Akt: Das Theater als szenisches Labor
Der letzte Akt schließlich treibt das Theater als szenisches Versuchslabor im Stil dekonstruierender Schauspiel-Experimente auf die Spitze: Tannhäuser, Venus, ihre Tochter, Elisabeth, Wolfram und der Engels-Hirte sitzen nebeneinander auf einer Bank – und springen nur in die Szene hinein, wenn sie dran sind. Wolfram zieht sich Elisabeth in die Arme, drängt sie zum Kuss, erwürgt sie gar – und die tot am Boden Liegende wird ausgewechselt gegen eine dann auch tote Venus…
Als Gedankenexperiment mag das spannend sein, zumal die Austauschbarkeit beider Frauentypen im Viereck mit Wolfram und Tannhäuser noch deutlicher wird – szenisch jedoch erschließt es sich dem Publikum kaum. Zumal Tannhäuser nie gemeinsam mit den Pilgern in Erscheinung tritt, später seine Romerzählung aus der Mitte des Publikums heraus singt, während der Pilgerchor von der obersten Empore des Zuschauerraumes ertönt, überwältigend homogen und sinnlich (Choreinstudierung: Klaas-Jan de Groot).
Musikalische Brillanz
Womit wir bei der musikalischen Brillanz des Abends wären – und zwar auf allen Ebenen. Zuvorderst: Die Opern-Welt hat einen neuen Tannhäuser. Der Schwede Daniel Johansson, in Essen bereits als Lohengrin bekannt, hat nicht nur sein Rollendebüt als Tannhäuser gemeistert, sondern ist ein charismatischer Heldentenor auf höchstem technischem Niveau: Leichtigkeit in allen Registern, freischwingend in der Höhe, wohlige Mittellage und mit famosem Textverständnis. Ihm zur Seite gibt Deirdre Angenent eine sympathische Venus, die sich eher mit Elisabeth verbünden möchte als in den Zickenkrieg zu treten. Astrid Kessler ist eine zierliche Elisabeth mit gesundem Vibrato, deren Höhe engelsgleich noch über den lautesten Ensembles schwebt. Naiv ist sie nicht, hält Tannhäuser auch mal das Messer an die Kehle. Heiko Trinsinger als Wolfram von Eschenbach begeistert gewohntermaßen mit Kontur und Charisma, Landgraf Hermann wird von Karl-Heinz Lehner mit rauer Tiefe und vor allem Kraft ausgestattet, Mathias Frey ist ein eher schmalbrüstiger Walther von der Vogelweide, Andrei Nicoara ein Biterolf mit Verve, dazu überzeugen Christopher Hochstuhl als Heinrich der Schreiber und Bart Driessen als Reinmar von Zweter.
Lob gebührt auch der musikalischen Leitung von GMD Tomáš Netopil, der sich teils sehr gedehnte Tempi gönnt und die Essener Philharmoniker nie zu laut anschwellen lässt. Am Schluss überstreicht die pfiffige Tochter von Venus und Tannhäuser das Gemälde der Philosophen-Minnesänger-Schule dick mit weißer Farbe, bricht mit allen Traditionen – und setzt sich fröhlich zwischen Elisabeth und Venus. Emanzipiert sind die Frauen bei Paul-Georg Dittrich jedenfalls. Das Publikum feiert einen gelungenen Spielzeitstart mit nicht enden wollendem Jubel und Standing Ovations.