Foto: Kwonsoo Jeon, Ekaterina Kudryavtseva und Ensemble des Staatstheaters Braunschweig in "Dante" © Björn Hickmann
Text:Andreas Berger, am 2. April 2023
Himmel und Hölle werden eins in Philipp Himmelmanns Dante-Universum. Da schleppen sich zu den auf- und abschwappenden Klänge der Hölle ausschließlich Frauen in blutverschmierten Hemden an Infusionsständern über die wüste Ebene – Wiedergängerinnen Dantes geliebter Beatrice, die so früh verstorben ist. Und sie alle, diese Mühseligen und Beladenen, bilden dann, säuberlich am Horizont aufgereiht, auch den pompösen Paradieschorus, der himmlische Seligkeit im Jenseits verheißt.
Regisseur Philipp Himmelmann distanziert sich in diesem Kontrast von Leid und Verheißung etwas von Dantes streng katholischer Vision aus der „Göttlichen Komödie“. Am Staatstheater Braunschweig zeigt er in seiner Inszenierung von Benjamin Godards seltenst gespielter Biopic-Oper über den mittelalterlichen Poetengott Italiens sowieso eher eine menschliche Tragödie. Denn er rollt die sehr sprunghaft gereihten Episoden aus Dantes Leben, die Godard dem Publikum mit hochtheatraler Musik zuwirft, auf der Drehbühne des Braunschweiger Staatstheaters als Fluchtvisionen auf, die der Dichter am Sterbebett seiner jungen Geliebten entwickelt.
Denn der Feingeist kann die grausame Realität des Sterbens nicht ertragen. Er kann kaum ertragen, in diesem von modernen Hilfsmitteln in ein Krankenzimmer verwandelten Raum mit ihr zu sein. Im Treppenhaus drückt er sich herum, erinnert sich an entscheidende Szenen seines Lebens, während er ruhelos durch die Zimmer eilt. Himmelmann, Bühnenbildner Paul Zoller und Kostümbildnerin Meentje Nielsen inszenieren das auch als Zeitreise: Die Sterbeszene spielt in unserer Gegenwart, seine Flucht führt nun allerdings nicht ins Mittelalter Dantes, sondern ins 19. Jahrhundert Godards. Das ist weniger zwingend – dieselben patriarchalen Verhältnisse, die Himmelmann zeigen will, hätten ja auch damals geherrscht.
Der für Männer und Frauen geschriebene Chor der Menschen von Florenz, die Dante zum Stadtrat wählen, ist nun also auf Männer im Gehrock getrimmt. Der einflussreiche Simeone unterstützt Dante zunächst, ist aber Beatrice versprochen. Als er von Beatrices Freundin Gemma (die eigentlich Dante liebt) erfährt, dass dieser Beatrice liebt, wechselt er aber die Seiten und führt Dantes Verbannung herbei. Godard hat damit ein für die italienische Oper typisches Liebes- und Eifersuchtsquartett ersonnen; Leidenschaft, die Leiden schafft. Und alle, außer Simeone, sind irgendwie zum Verzicht bereit. Beatrice will, um Dantes Leben zu retten, sogar ins Kloster gehen.
Knallige Theatermusik
Godard (1849-95), der sich rühmte, Wagners Musik nicht gekannt zu haben, schreibt dafür eine ziemlich knallige Theatermusik. Eher nummernhaft, was merkwürdige Spielpausen ergibt, aber mit starken Chören, schönen Duetten und Arien, die vor allem an Gounod, manchmal an „Hoffmanns Erzählungen“ erinnern, und immer effektvoll. Die Aktschlüsse haben jeweils orchestralen Wumms. Harmonisch gibt es keine Wagnisse: Die ständigen Crescendi in den Arie nutzen sich freilich etwas ab, und noch in der Hölle kommt Godard ohne größere Dissonanzen aus. Was er großartig beherrscht, ist die dynamische Achterbahn mit auf- und abschwellendem Orchester. Und es erinnert etwas an die französische Orgelromantik, wenn im harfenblubbernd erreichten Himmel das Orchester sich mit wummernden, wie auf der Stelle tretenden Doppelschlägen langsam aufwärtsschaukelt. Mino Marani breitet das mit dem Staatsorchester entsprechend klangvoll aus.
Nun muss man der üppigen Orchestrierung sängerisch erstmal standhalten. Zachariah N. Kariihti gibt mit einem prachtvoll strömenden Bariton den am Ende wieder versöhnten Gegenspieler Simeone. Milda Tubelyte setzt als Gemma mit rundem Mezzo vor allem menschlich-mitfühlende Akzente. Kwonsoo Jeon steigt als Dante gleich mit viel Force ein. Sein Tenor ist von schmetterndem Ton, manchmal mit Italianità aufblühend, lyrische Differenzierung gibt es kaum, eine strapaziöse Partie. Auch Ekaterina Kudryavtseva als Beatrice (erfahren als Mimi oder Violetta) muss hier stimmlich bis an die Grenze zulegen, dabei ist ihr Sopran von schöner Fülle, darf zu Flötenflimmern auch mal zarter aussingen. Ein großes, puccini-haftes Duett gibt es noch am Ende, wo sich beide in eine Zukunft hineinsteigern, die es realistisch nicht mehr geben wird. Aber dann kommt schon das Dies-Irae-Motiv ins Spiel: Es geht ans Sterben, in die weichen Streicher seufzt eine Solo-Geige, endlich beruhigt sich Godards Musik mal.
Bei Himmelmann ist das Schlussduett Teil von Dantes dichterischen Visionen. Als Beatrice wirklich stirbt und fleht, in seinen Armen liegen zu dürfen, traut er sich nicht zu ihr, flieht erneut durch die Zimmer, ihren Auftrag, sie dichterisch unsterblich zu machen, in den Ohren. Crescendo, Schmerz. So motiviert die Regie Dantes „Göttliche Komödie“ durch eine menschliche Tragödie. Godards etwas sentimentale, sehr auf Wirkung berechnete Oper bekommt so einen einordnenden Rahmen als künstlerische Selbstrechtfertigung (und -verklärung). Das wirkt!