Bjørn Waag und Khatuna Mikaberidze im Familienoperndrama "Orest" an der Staatstoper Hannover.

Ausbruch

Manfred Trojahn: Orest

Theater:Staatsoper Hannover, Premiere:08.02.2013Regie:Enrico LübbeMusikalische Leitung:Gregor Bühl

Für den Erfolg von neuen Opern sind der Uraufführungsbeifall oder das Feuilletonlob nicht so entscheidend, wie der Abstand zur nächsten Inszenierung. Für Manfred Trojahns achtzigminütiges „Musiktheater in sechs Szenen“ mit dem schlichten Titel „Orest“ gab es 2011 bei der Uraufführung an der Nederlandse Opera in Amsterdam viel Beifall. Für das Stück und für die musikalische und szenische Sorgfalt seiner Umsetzung. Marc Albrecht hatte sensibel dirigiert. Und Katie Mitchell projizierte das notorische Rache-Morden bei den Atriden akribisch in ein (klein-)bürgerliches Vierwändeformat. Erwartungsgemäß wurde „Orest“ beim alljährlichen Branchenranking der Zeitschrift „Opernwelt“ mit dem Prädikat „Uraufführung des Jahres“ bedacht. Die überlebensfördernde zweite Inszenierung besorgte jetzt Enrico Lübbe. Dafür machte er auf seinem Weg vom Schauspiel Chemnitz ans Schauspiel Leipzig sozusagen einen Umweg über die Staatsoper Hannover. Unter dem Intendanten Michael Klügl wird an diesem Haus seit Jahren eine ambitionierte Programmpolitik betrieben und szenisch auch mal etwas riskiert. Die aktuelle deutsche Erstaufführung passt genau in diese Linie.

Enrico Lübbe setzt auf eine postkatastrophische Grundstimmung. Dafür hat Etienne Pluss einen Einheitsbühneraum gebaut, dessen einstige Pracht kaum noch zu erkennen ist. Die Zwischendecken sind eingestürzt, der Boden ist aufgerissenen. Alles ist mit Zivilisationsmüll und einer beklemmenden Katastrophenstimmung gefüllt und so zu einem psychischen Innenraum gemacht. Das 80minütige „Musiktheater in sechs Szenen“ setzt da ein, wo Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss in ihrer „Elektra“ enden. Es beginnt mit dem durchdringenden Todesschrei der Klytaimnestra und durch den Raum schwirrenden „Orest“-Rufen, um dann in Trojahns zwischen Raunen und dramatischer Wucht changierender Musik hinein zu gleiten. Gregor Bühl setzt dabei mit dem Niedersächsischen Staatsorchester auf vokale Eloquenz und szenische Dynamik.

Was wie eine Blutrache-Endlosstory anhebt, kreist bald um die Frage nach den seelischen Folgen der Fremdbestimmtheit des Handelns und dem Dilemma einer schuldlosen Schuld. Orest hat den Mord an seiner Mutter hinter sich, und damit auf Geheiss des Gottes Apollo/Dionysos deren Mord an Agamemnon gerächt. Tomasz Zagorski taucht im Pelz und schmuckbehängt wie ein Zuhälter auf. Er will Orest (mit Mut zum Hässlichen: Bjørn Waag) genauso wie seine im Racheterrorwahn aufblühende Schwester Elektra (furios: Khatuna Mikaberidze) zu immer neuen Morden antreiben. An der heimgekehrten Helena (Dorothea Maria Marx) etwa. Die wird bei Lübbe mit Eimern voller Blut überschüttet bis sie tot am Boden liegen bleibt. So wie auch all die Wiedergängerinnen von Klytaimnestra. Aus all der beklemmenden Wucht der Rachemorde führt kaum ein Weg heraus. Es sei denn, einer löst sich vom Rachegesetz und dem Machtanspruch der Götter. Was Orest versucht, nachdem er Helenas unschuldige Tochter Hermione (als personifizierte Unschuld: Romy Petrick) nicht zu ermorden vermochte, als er ihr in die Augen gesehen hatte. Die beiden schaffen es auszusteigen. Sie treten durch den gleißenden Neonrahmen vor an die Rampe. Drinnen freilich ist der Platz von Orest schon wieder besetzt. Und der fürchterliche Aufschrei vom Anfang wiederholt sich.