Foto: Andreas Jören (Dottore), Eva Bernard (Isabella), Stephen Chambers (Panfilo), Patricia Roach (Teodata), Kirsten Labonte (Simonetta), Lotte Kortenhaus (Beatrice) © Landestheater/Schomburg
Text:Andreas Berger, am 8. April 2016
Von wegen Traum eines Frühlingsmorgens. Einen Albtraum hat der italienische Dekadenz-Dichter Gabriele d’Annunzio da 1897 geschrieben, weit weg von unseren aktuellen weltpolitischen Problemen und ganz eingesponnen in den symbolistisch verklärten Psychologismus seiner nur sich selbst geweihten Persönlichkeit. Der 36-jährige deutsche Komponist Alexander Muno hat das Stück 2014 zur Vorlage seiner Oper „Sogno d’un mattino di primavera“ gemacht, die d’Annunzios italienischen Text beibehält. Damit hat er den der Literaturoper gewidmeten Giselher-Klebe-Wettbewerb des Landestheaters Detmold gewonnen – und mithin die Uraufführung seines Werkes jetzt in dem prächtigen Haus.
Literaturoper ist sie zweifellos, wenn auch einer Literatur, die uns heute wenig auf den Nägeln brennt. Gleichwohl hat das Stück, das d’Annunzio seiner damaligen Geliebten Eleonora Duse auf den Leib geschrieben hat, eine morbide Faszinationskraft. Isabella ist in den Armen ihres ermordeten, blutüberströmten Geliebten erwacht, so dass „sein Tod in mein Fleisch eindrang“, wie sie später berichtet. Das ist so die kraftvoll-obsessive Sprache, die der Dichter beherrscht. Seither gerät Isabella bei allem, was rot ist, in Hysterie.
Wer Isabellas Freund ermordet hat, scheint dagegen niemanden zu interessieren. Aber d’Annunzios skurriler Symbolismus ruft Figuren und Konstellationen auf, die unsere von Poe und Freud verdorbene Phantasie schweifen lassen. Wird ihr doch als Heilungsversuch der Bruder des Toten zugeführt, der auch in sie verliebt war und nun ihre Schwester Beatrice heiraten soll. Das strotzt ja geradezu von Ersatzhandlungen. Aber womöglich hat Isabella den Geliebten im erotischen Rausch ja auch selbst umgebracht, lang genug dauert ihre salomehafte Selbstaussprache. Grund zur Eifersucht mag er ihr genug gegeben haben, wenn er nur etwas d’Annunzio glich. Das Spiel der Duse mag daraus zusätzlichen Reiz gezogen haben.
Regisseur und Hausherr Kay Metzger wagt in seiner Uraufführungsinszenierung selbst keine Deutung. Er erzählt im realistischen Bühnenbild des 19. Jahrhunderts (Ausstattung Michael Heinrich) die Handlung tapfer nach. Und lässt den Traum sehr konkret Gestalt werden, wenn der blutverschmierte Geliebte wahlweise im Bett Isabelles oder der Badezimmertür sichtbar wird – für‘s Publikum und Isabella, während er sofort verschwindet, sobald jemand anders in die Richtung guckt.
Der Raum mit seinem Riesenbett und den Flügeltüren hat etwas vom Levée der Marschallin im „Rosenkavalier“, nach der endgültigen Trennung von Octavian. Hier scherzen Dienerin und Gärtner, referieren alte Wärterin und der mirakulöse Doktor, was bisher geschah. Zwischen Blumentöpfen und im gründurchwirkten Kleid fühlt sich Isabella am wohlsten, denn unters Gras zieht es sie, dem geliebten Toten zu. Metzger gönnt ihr aber die Flucht in den Park nicht, sie muss alles drinnen erleben, was einerseits die Handlung wieder eher als Traum erscheinen lässt, andererseits muss man an die grausamen Internierungen psychisch auffälliger Menschen im 19./20. Jahrhundert denken.
Dazu ergießt Muno eine sinfonisch durchkomponierte Musik, die aus derselben Zeit stammen könnte. Das wabert vor uns in hellsten Streicherfarben wie Elsas Traum auf, gewinnt Drastik, hart an der Dissonanz schrammende Klangmacht und weichen Sound, bis es alles wieder in zarten Geigen verfliegt. Dazwischen aber breitet Muno den Text entlang eine alle dramaturgischen Wendungen ausmalende, immer wieder üppig crescendierende, oft rauschhaft aufgehende Klanglandschaft. Wobei es immer wieder Passagen spröden Versiegens mit vereinzelt klagenden Holzbläsern, verzagten Harfentönen oder gar ruppigem Strich gibt, auch dies psychologisch sprechend. Muno beherrscht den Apparat meisterhaft, neu oder ungewöhnlich klingt das aber nirgends. Vielleicht sind wir jetzt ja im Zeitalter der Neo-Postromantik. Das Symphonische Orchester des Landestheaters unter Lutz Rademacher fühlt sich da spürbar wohl und glänzt und prangt.
Aber so reibungslos laufen hier Musik, Text und Inszenierung zusammen, dass man sich in diesem stimmungsvollen Ästhetizismus nun als Publikum mit heutigen Befindlichkeiten und Sorgen fast als störend empfindet. Hätte man die Psychose Isabellas aktualisieren können? Da müssen ja auch heute Frauen ihre Männer oder Söhne an ihrer Brust verbluten lassen, weil es der IS so will. Nein, das lässt wohl der Text nicht zu. Aber vielleicht hätte man die auch politisch höchst schwindelerregende Biografie des Mussolini-Freundes d’Annunzio weiter heranziehen können, um die allgemeine Auflösung und spezielle Hysterie Isabellas zu begründen. Und wenn man schon bei einer individuellen Geschichte mit amourösem Hintergrund bleiben muss, dann wäre die Psychose zumindest in eher abstraktem, allgültigem Raum, als ein von allen Seiten die Gewissheiten zerstörender Traum mit Identitätsverlust die aufrüttelndere Lesart.
Eva Bernard als Isabella bringt in ihrem Spiel, fliegend, wehend, kauernd, dafür bereits die ergreifende Einsatzkraft mit. Stimmlich steht sie die zwei Stunden fast andauernder Präsenz mit einem weich in sich liegenden Sopran eindrucksvoll durch, wobei sie auch den dramatischen Ausbrüchen gewachsen ist. Aber der gute Ton wird immer gewahrt. Muno gesteht ihr keinen Bruch des schönen Singens zu. Mal ein Schrei, mal ein gesprochenes Wort würden der exaltierten Partie noch mehr Ausdruckskraft und Glaubwürdigkeit gegeben haben.
Wieviel Geheimnis in der Verbindung von Isabellas Schwester Beatrice und dem Bruder des Toten, Virginio, steckt, bleibt unausgedeutet. Lotte Kortenhaus singt die Beatrice mit warmem Mezzosopran, Ewandro Stenzowski den Virginio mit starkem Tenor, darstellerisch wird er über lange Phasen an der Tür abgestellt. Lebhafter dürfen sich Stephen Chambers mit schönem lyrischen Tenor und Kirsten Labonte mit Spiel-Sopran als Dienerpaar einbringen. Während Patricia Roach mit ruhigem Mezzo und Andreas Jören mit solidem Bariton Wärterin und Arzt verkörpern.
Es gibt für alle und besonders Eva Bernard berechtigt langen Applaus nach der Premiere. Und doch fühlt man sich mit diesem Werk merkwürdig aus der Zeit gefallen. Literaturoper muss doch nicht das Schwelgen in abgeschlossener Ästhetik heißen, sondern könnte ja aus der Literatur eben archetypische oder aktuelle Themen und Aussagen generieren – herausgelesen mit der Brille unserer Tage, um neue Spannung, Rührung und Aussage zu erzeugen. Diese Brille aber lassen Muno wie Metzger offenbar ganz bewusst im Etui.