Foto: Bohuslav Martinus "Julietta" an der Oper Frankfurt. v.l.n.r.: Andreas Bauer (Mann am Fenster; abgewandt), Kurt Streit (Michel; auf dem Tisch stehend) und Beau Gibson (Kommissar; sitzend) © Barbara Aumüller
Text:Klaus Kalchschmid, am 22. Juni 2015
Seit ihrer Wiederentdeckung bei den Bregenzer Festspielen 2002 war Bohuslav Martinus „Julietta“ erneut in der Versenkung verschwunden, bis Zürich im Februar diesen Jahres eine leicht gekürzte, großartige Aufführung der französische Fassung gelang, die der Komponist kurz vor seinem Tod (und nach der deutschen Erstaufführung 1959) von seiner 1938 uraufgeführten tschechischen Originalfassung erstellte. Sie basierte auf der ursprünglichen Vorlage von Georges Neveux und war bis 2003 verschollen. Nun folgte Frankfurt erneut mit der (ungekürzten) deutschen Version – ebenfalls vom Komponisten selbst, die vor allem für die vielen gesprochenen Passagen wohl die theaterwirksamste Lösung darstellt.
Zwei Akte lang ist man verwirrt über einen Protagonisten – den Buchhändler Michel aus Paris –, der per Zug in ein kleines Dorf kommt, das gar keinen Bahnhof hat, mit Bewohnern, deren Erinnerungsvermögen über gerade mal zehn Minuten reicht und die den Neuankömmlung förmlich „anzapfen“, um ihrem Gedächtnis aufzuhelfen. Allerlei absurde Situationen ergeben sich daraus und selbst das Mädchen, in das sich Michel vor drei Jahren verliebt hat – oder besser in das Lied, das sie sang –, ist enttäuscht, dass er von keiner romantischen Vergangenheit erzählen kann. Ein Streit darüber entbrennt, plötzlich löst sich ein Schuss und das Mädchen ist verschwunden.
Im dritten Akt findet sich der Buchhändler in einem „Traumbüro“ wieder, das auch anderen Männern maßgeschneiderte Träume anbietet. Ein Beamter wie aus einem Roman von Kafka versucht Michel zum Aufwachen zu bewegen, ansonsten müsse er auf immer in seinen Träumen leben. Doch der möchte unbedingt seine Julietta wieder treffen, deren Namen er freilich nicht kennt und so auch keinen Verdacht schöpft, als alle Männer, die sich im Traumbüro nacheinander einfinden, eine Julietta suchen.
Martinus Oper wird in diesem dritten Akt geradezu gespenstisch psychotisch und zugleich ungemein raffiniert in ihren musikalischen Allusionen und Verwerfungen, die selbst immer irrealer anmuten: mal wie aus Strawinskys „Sacre“ stammend, mal als einsames Englischhorn-Solo à la „Tristan“, zwischendurch ratternde Eisenbahn-Musik, dann wieder in düsteren Akkorden schwelgend wie in Bartóks „Herzog Blaubarts Burg. Es gibt viel gesprochenen Text, manchmal als Melodram von Musik unterlegt und Sprechgesang, doch das verstärkt das Unbehagen des Zuschauers nur.
Die eigentümlich verschachtelte 50er Jahre Büro-Welt des Bühnenbildners Boris Kudlicka, in der es seltsam funktionslose Fenster gibt, die in braune Resopalwände eingelassen sind, und das sich zur Hinterbühne auf einen riesigen Zimmerpflanzen-Garten öffnet, ist nun nach hinten von einem roten Theatervorhang abgeschlossen. Wahlweise nichts oder die Spiegelung der Möbel aus der Mitte der Bühne sind dahinter zu sehen. Am Ende schaut Michel der Wiederholung der Eingangsszene – und sich selbst – zu, bevor ihn Regisseurin Florentine Klepper in einem weiteren Double vervielfältigt. Realität und Traumwelt verschmelzen endgültig und alles könnte von Neuem beginnen.
Kurt Streit vermag die mal lyrische, dann wieder durchaus dramatische, unbequem liegende Partie des Buchhalters Michel, der sich so stur wie vergeblich die Liebe einer Frau erträumt, großartig zu verkörpern. Immer ein wenig steif lässt sich dieser Michel seltsam emotionslos im Fahrwasser all der absurden Situationen treiben, intensiv nur im großen Liebesduett mit Julietta, das freilich so katastrophal endet. Juanita Lascarro ist mit schillerndem Sopran die gleichzeitig so verführerische und doch kalte Julietta, die sich emphatischer in eine fiktive Urlaubsreise der beiden verliebt, die ihnen ein Verkäufer von Erinnerungen andreht, als in den Mann selbst; kein Wunder, ist sie doch nur seiner Wunschvorstellung entsprungen.
Hervorragend besetzt sind auch die vielen kleineren Partien mit jungen Sängern aus dem Frankfurter Ensemble wie dem feinen Tenor Beau Gibson, dem französischen Bariton Boris Grappe oder dem virilen Bass Andreas Bauer, der als Sträfling eine fantastische Bühnenpräsenz besitzt. Auch Michael McCown gibt dem Beamten in diesem dritten Akt ebenso scharfes wie skurriles Profil.
Sebastian Weigle hat mit dem hervorragend spielenden Frankfurter Opern- und Museumsorchester ein feines Gespür für die vielen musikalischen Stile und ihre Verknüpfungen, lässt es mal ordentlich romantisch aufrauschen, um im nächsten Moment feinste Kammermusik zu bieten, fein ausgehorchte Klänge oder seltsam sehnsuchtsvolle Melodien. Bleibt zu hoffen, dass diese nicht zuletzt musikalisch herausragende Produktion, die auch auf CD erscheinen wird, das Stück endlich im Repertoire der großen und mittleren Bühnen verankert.