Das Kammerorchester mit acht Musikern sitzt seitlich hinter einem Projektionsschleier, das Publikum um ein erhöhtes quadratisches Podest mit Bodenluke. Ein optimaler Spielraum: Seine Flächen, Ecken und Zugänge bieten variantenreiche Möglichkeiten für die zahlreichen Simultanszenen. Martin G. Berger ist mit seinem Produktionsteam die optimale Nutzung des Raumvolumens der Neuköllner Oper packend gelungen. Er geht an die dreißig Jahre zurückliegende Handlungszeit mit heutigen Mitteln heran und fasst sie doch in ihrem eigenen Kern.
Ein Modellbahn-ICE kreist am Rand des Podests durch eine grüne deutsche Miniaturlandschaft mit idyllischen Siedlungen. Niedlich ist das und Zitat einer Zeit, als es in diesem Land noch um Relevanteres ging als Massenverspätungen und die Bahn ein Fluchtmittel aus beengten Verhältnissen war. Doch die Figuren schreiten durch Asche und verkohltes Papier. Elfie ist eine, die Konventionen nicht verstehen will. In ihr erkennt man Woyzeck und Marie zugleich. Sie ist auf der Suche nach intimer Nähe, aber ohne zerstörerische Willfährigkeit. Trotzdem hat sie auch etwas von einer Kleinstadt-Lulu, der man im gesellschaftlichen Leben nur eine nicht ernstzunehmende Un-Rolle zuweist. Inka Löwendorf spricht diese dem sozialen Druck nicht genügende Protagonistin mit stark herausgekehrter Einfachheit. Sie schafft es beeindruckend zu zeigen, wie sich der Wandel Elfies hinter ihrer Stirn und in ihrem so beredten Gesicht vollzieht, aber nur selten in unmittelbarer szenischer Aktion. Singen dürfen nur die anderen. Elfie ist auch in den erotischen Begegnungen mit dem Musikkritiker Hermann Dechant (mit dieser Figur, dargestellt von Guido Kleinadam, erwiesen Dorst und Ehler dem Leiter des Bamberger Domchores eine literarische Reverenz), dem Chirurgen Harry Hallwachs (David Schroeder) und dem Elektrogroßhändler Elmar Giebel (Victor Petitjean) von fragender Ungewissheit. Mit Ausnahme der kindlich wirkenden Isabella Köpke als Elfies und Ernst Steinheuers Tochter Beatrix passen das physische Alter der Darsteller und das ihrer Rollen nur selten zusammen. Zufall oder Absicht? Weil die Figuren nur selten in schnelle Bewegungen geraten, liegt ein bleierner Schleier auf ihnen. Entscheidendes wird oft nicht auf der Spielfläche, sondern über Video verhandelt. Die Wechsel und Querbezüge zwischen Szene und Video treten so in ihre eigene dramatische Interaktion. Deshalb gerät nach dem symbolischen Mord die von alten Beziehungsmustern gefährdete Wiederannäherung zwischen Elfie und ihrem Mann, hinter dessen sehr robuster menschlicher Schale Clemens Gnad den weichen Kern bloßlegt, zu einem Moment von ganz tiefer, fragiler Intensität.
Das Zeitgeist-Kolorit wirkt nicht piefig. Das liegt auch nicht in der Absicht von Martin G. Berger und seiner Ausstatterin Sarah-Katharina Karl. Denn wichtiger als der Kleinstadt-Skandal sind die Kämpfe um andere Möglichkeiten des Seins. Als Zuschauer ist man in der Neuköllner Oper den Darstellern meistens zum Greifen nah. Trotzdem gelingt Martin G. Berger sogar bei einer realen Nacktszene die Stilisierung: Allgemeingültigkeit, ein Theater-Schlagwort vor 20 Jahren, und personalisierte Botschaft, ein Schlagwort von heute, bringt er zur Synthese. Bergers Visualisierung bewegt sich auf gleicher Ebene mit Dorst/Ehlers Text, der durch Klarheit, nicht durch wabernde Verschlüsselungen, seine subtile Mehrdeutigkeit behält.
Auch diesmal hat Roman Rehor ein intelligentes Video-Environment entwickelt, das Aspekte schärft und für Martin G. Berger die Basis dafür bildet, dass die dargestellte Dauerreibung zwischen Konformität und Isolation nicht der einzige dramatische Kristallisationspunkt bleibt.
Was für eine Musik macht man dazu? Wolfgang Böhmer schafft es ohne melodienselige Milieumalerei in die gestische Verallgemeinerung. Stabilität gewinnt er vor allem durch geerdete Streicherfarben. Den Bühnenpraktiker merkt man an den vielfältig gestalteten Übergängen von der Rede über das Melodram in den Gesang. Trockene Rezitative gibt es bei Wolfgang Böhmer nur äußerst selten, was die 70 Minuten sehr kurzweilig werden lässt. Trotz des Anspruchs auf Differenzierung sind die Partien von Regine Gebhardt (Elfies Mutter / Berliner Kneipenwirtin) und Jana Degebrodt (Arztgattin) schlichter als die Männerfiguren und Elfie.
Die Besetzung an der Neuköllner Oper ist auch deshalb überzeugend, weil Martin G. Berger genaue Porträts entwickelt. Alle Spieler verfügen über markante Präsenz und sogar darstellerische Zurückhaltung, was in diesem Raum nicht einfach ist. Es hätte Tankred Dorst und Ursula Ehler gefallen, dass es in der klaren Figurenzeichnung nicht zu einer in die Posse abgleitenden Typisierung kommt. Auf einer regulären Guckkastenbühne würde diese „Oper für Schauspieler“ wahrscheinlich an Wirkung verlieren. Vor allem Martin G. Berger und Roman Rehor zeigen, wie eine zeitgemäße Form des Volkstheaters aussehen könnte. Kräftiger, ritualisiert wirkender Applaus nach der ausverkauften Premiere.