Foto: Kirill Serebrennikovs "Così fan tutte" am Opernhaus Zürich © Monika Rittershaus
Text:Tobias Gerosa, am 5. November 2018
Kann man eine Opernneuproduktion ohne Regisseur stemmen? Kirill Serebrennikov wurde spätestens Ende September in Zürich zu den Proben für Mozarts „Così fan tutte“ erwartet. Doch sein Hausarrest, in dem er seit über einem Jahr in Moskau gehalten wird, wurde nochmals verlängert und mittlerweile hat der Prozess begonnen – wie man von hier aus beurteilen kann, mit fadenscheinigen Argumenten: Gelder seien veruntreut worden, weil eine Theaterproduktion nicht stattgefunden habe. Dabei bezeugen hunderte Besucher das Gegenteil. Das Opernhaus musste entscheiden und beschloss – anders als die Staatsoper Stuttgart, die Serebrennikovs „Hänsel und Gretel“ als Fragment zeigte –, Serebrennikovs Inszenierung umzusetzen. Das gelang mithilfe seiner Planung, seinen Vertrauten für die Umsetzung und seinem Anwalt als Postboten (Hausarrest bedeutet auch kein Internet), mit Dolmetschern und der Überzeugung, ihn jetzt nicht hängenlassen zu können.
Ausnahmesituationen können beflügeln: Diese „Così fan tutte“ packt konzeptionell wie handwerklich, macht Spaß und regt an zum Weiterdenken. Bei Serebrennikov geht die Wette zwischen den Männern, dass sie gegenseitig ihre Frauen verführen könnten, viel weiter als in eine einfache Komödie. Dass Don Alfonsos Beziehung eben per SMS beendet wird, bringt ihn auf die fatale Idee, mit Ferrando und Guglielmo zu wetten, dass auch ihre Freundinnen nicht treu sein würden. Die beiden schlagen ein und werden nach herzerschütterndem Abschied auch gleich kremiert. Harmloses Verkleidungsspiel? Nicht hier. Denn die beiden werden tatsächlich ersetzt, die Sänger Frédédic Antoun (hervorragend volltönend) und Andrej Bondarenko (etwas verwaschen singend) bekommen stumme Schauspieler zur Seite: Sind es Doubles, sind es Alter Egos, sind es ihre eigenen Vorstellungen? Ab dem zweiten Akt wird die Doppelung immer mehr zur Spaltung, die Sänger zu Kommentatoren des Verführungsspiels. Sie müssen von außen zuschauen, wie ihre Frauen, kontrolliert vom zynischen Don Alfonoso von Michael Nagy und der Gouvernanten-Therapeutin Despina (Rebecca Olvera) mit ihren seltsamen Frauenrecht-Vorträgen, sich verführen lassen. „Men are just walking dildos“ leuchtet da auf, „my pussy, my right“, Bilder von Frauenrechtsdemos und Femen – aber Dorabella und Fiordiligi lenken sich lieber beim Shoppen ab. Anna Goryachova wirft sich geradezu fulminant in die Rolle der Dorabella, Ruzan Mantashayan als Fiordiligi bleibt in Spiel und Gesang reservierter und vorsichtiger.
Serebrennikov und Evgeny Kulagin, der seine Ideen in den Proben praktisch umsetzte, inszenieren dies mit einer Genauigkeit, die im Musiktheater höchst selten zu erleben ist. Alles ist so detailreich ausgeführt, dass man zweimal schauen müsste, um alles mitzubekommen. Nur wie kommt Serebrennikov am Ende aus der Geschichte heraus, dass er die Männer am Anfang hat sterben lassen? Dafür braucht er einen Kunstgriff. Zum Finale, wo die neuen Beziehungen mit Heiratsverträgen besiegelt werden, bevölkern Geister und Dämonen die verwandelte Bühne. Die Wette hat die Büchse der Pandora geöffnet, was herauskommt, verstört. Serebrennikov und Dirigent Cornelius Meister fügen hier die Musik aus „Don Giovanni“ ein, mit der dort der Geist des toten Komturs auftritt: Die Toten kommen zurück – die Welt ist aus den Fugen.
Hinter dieser starken und stark ausgeführten Idee tritt die Musik etwas zurück. Dirigent Meister lässt den Orchestergraben weit hochfahren und die Philharmonia Zürich mit alten Hörnern und Trompeten spielen, wählt rasche bis sehr rasche Tempi. Vielleicht auch weil die Bühne mehrere Meter hinter der Rampe erst beginnt und die zweistöckige Konstruktion akustisch schwierig sein könnte, wird oft lauter gesungen als nötig. Was überzeugt, bleibt mehr das Spiel denn die vokalen Feinheiten oder besondere Mozart-Stilsicherheit (abgesehen von Antoun und Nagy).
Dem Opernhaus brachte diese Premiere sehr viel Publicity. Hoffentlich nützt sie, dass die Produktion gesehen wird, dass ihre hochaktuellen Fragen zum Verhältnis von Frauen und Männer weiterdiskutiert werden. Und dass die Aufmerksamkeit auf Serebrennikovs Prozess bleibt, auch wenn die „Free Kirill“-T-Shirts des Schlussapplauses von der Bühne verschwunden sind.