Foto: Paulus und Pasolini. Jan Friedrich Eggers in der Titelrolle der Uraufführung "San Paolo" von Sidney Corbett am Theater Osnabrück © Jörg Landsberg
Text:Christoph Schulte im Walde, am 29. April 2018
Uraufführung in Osnabrück: In seiner Oper „San Paolo“ versetzt Sidney Corbett den Apostel Paulus ins 20. Jahrhundert und folgt dabei einer Filidee von Pier Paolo Pasolini
Nach neunzig Operminuten kennen wir die wichtigsten Stationen im Leben des heiligen Paulus, jenes christlichen Völkermissionars, der Jesus zwar nie persönlich begegnet ist, aber für die Ausbreitung des Christentums und der Entwicklung einer Theologie von enormer Wichtigkeit war. Und nach eben diesen neunzig Opernminuten kennen wir auch einen Paulus, wie er mitten im 20. Jahrhundert auf Gottes heiligem Erdboden hätte pilgern und missionieren können. Genau dafür nämlich hat sich der legendäre italienische Filmemacher Pier Paolo Pasolini interessiert: wie würde der einflussreiche Apostel seine Botschaft im 20. Jahrhundert verkünden? Pasolini hatte einen Film zu diesem Thema geplant, ihn aber nie realisiert. Sidney Corbett, 1960 in Chicago geboren, wählte nun zentrale Szenen des geplanten Streifens als Material für seine Oper „Sao Paolo“ – ein Auftragswerk des Theaters Osnabrück, das bereits 2013 Corbetts Musiktheater „Das große Heft“ herausgebracht hat.
Im Grunde ist „Sao Paolo“ nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Nacherzählung und Bebilderung einer Lebensgeschichte, die von etlichen Turbulenzen, von Höhen und Tiefen, von Erfolgen und vom Scheitern geprägt war. Eine Erfahrung, die Missionare jedweder Couleur und in welcher Mission auch immer durch alle Jahrhunderte hindurch haben machen müssen. Insofern funktioniert es problem- und reibungslos, die 2000 Jahre alte Vita des heiligen Paulus ins Hier und Jetzt zu transportieren. Bühnenbildner Wolf Gutjahr stellt dafür einen riesigen zweigeschossigen Kubus aus Trennwänden, Fenstern, Türen, Treppen und Leitern auf die Drehbühne des Theaters. So entstehen ganz unterschiedlich proportionierte Räume – enge, weite, mal aus rohem Sperrholz gefertigt, mal aus glattem, weißem Material. Räume, die sowohl intimes Kammerspiel zulassen als auch größere Massenszenen, Formate, die sich im Fortgang der Paulus-Geschichte stetig abwechseln.
Wer sich ein wenig auskennt in der Geschichte des Urchristentums, dem kommt „Sao Paolo“ auf Schritt und Tritt bekannt vor. Natürlich wird erzählt von der Mutation des Saulus zum Paulus beim berühmten „Damaskus-Erlebnis“, von den lebhaften Diskussionen in der Urgemeinde, wo Paulus auf den impulsiven und lautstark wetternden Petrus trifft. Da geht es um fundamentale Fragen wie die der „Heidenmission“, die der Widerstandskämpfer Petrus ablehnt. Später formuliert Paulus seine Ansichten über ein „keusches“ und gottgefälliges Leben, über die Stellung der Frau in der Gemeinde; er versucht sein Glück bei den Schönen und Reichen der Society, sie vom Evangelium zu überzeugen…
Regisseur Alexander May aktualisiert, indem er zeitgemäß kostümiert und ausstaffiert. So werden wir Zeuge einer fröhlichen Party, in der reichlich Schampus fließt, blicken auf soldatenhaft gekleidetes Personal, lassen uns an das Eingangstor des Konzentrationslagers Buchenwald erinnern oder nehmen zur Kenntnis, wie ein Gefängniswärter freiwillig die Seiten wechselt und dem Gefangenen namens Paulus schuldbewusst seinen Revolver vor die Füße legt. Videoprojektionen unterstreichen diese Form der Aktualisierung. Aber man nimmt sie nicht viel mehr als „nur“ zur Kenntnis. Echte Empathie mit denen, die da singen und spielen, entwickelt sich kaum. Vielleicht liegt das auch an Sidney Corbetts Musik, die über weite Strecken kammermusikalische Qualitäten aufweist, jedenfalls nie laut ist. Sie wirkt aber auch recht uniform, zusammengestellt aus vielen kleinen Klangereignissen, die sich im Laufe des Abends wiederholen: das häufige Flirren der Streicher in hoher Lage etwa, oder Aktionen des Schlagwerks, sparsame Soli von Holz und Blech, mitunter kurze Fortissimo-Ausbrüche des Orchesters. Dazu ein Gesang, den Corbett nahezu gänzlich syllabisch angelegt hat. Keine Spur von Melismen, größeren Phrasen, die einen Bogen über ein oder zwei Textzeilen spannen würden. Opernmusik als „Kraftwerk der Gefühle“? Nicht in „Sao Paolo“!
Dabei stellen die Gesangspartien ganz gehörige Ansprüche an ihre Interpreten. Allen voran an Jan Friedrich Eggers in der Titelpartie. Er schultert seine Rolle großartig, mit starker Kondition und darstellerischer Grandezza, stimmlich ausgestattet mit vielen Farben und großer dynamischer Bandbreite. Daniel Wagner ist als Timoteo einer von Paulus’ ersten Sympathisanten – ein eindrucksvolles Rollenporträt! Auch die kleineren Partien aus dem Umfeld jener, die als christliche Urgemeinde oder deren Widersacher agieren, machen eine prima Figur: Susann Vent-Wunderlich als kraftvolle(r) Markus, Lina Liu als Stimme Christi, Genadijus Bergorulko als Anania, der quasi die Initialzündung gibt zu Paulus’ Mission. Rhys Jenkins als Petrus punktet sowohl in optischer als auch klanglicher Hinsicht.
Für die Paulus gegenüber mal feindselig, mal wohlwollend gesinnten Volksmengen sorgen Opern- und Kinderchor des Theaters Osnabrück. Am Pult des Osnabrücker Symphonieorchesters steht dessen Kapellmeister Daniel Inbal. Wenn der Eindruck nicht täuscht, war der zur Uraufführung angereiste Komponist Sidney Corbett mit dem, was da aus dem Orchestergraben drang, höchst zufrieden! Mit den sängerischen Ressourcen des Ensembles allemal zurecht – davon hatte sich das Premierenpublikum neunzig Minuten lang voll und ganz überzeugen lassen können.