Foto: Thomas Prazak, Mirjana Milosavljević, Julius Kuhn, Ute Fiedler, Sarah Maria Grünig in "Extra Zero" am Staatstheater Augsburg © Jan-Pieter Fuhr
Text:Thomas Morawitzky, am 25. Juni 2023
Elisabeth Pape hat ein Stück über Essstörungen geschrieben: Am Staatstheater Augsburg wird die Uraufführung unter der Regie von Blanka Rádóczy zu einem dichten Abend zwischen Komik und Verzweiflung.
„Zeig mir mal den Joghurtbecher“, raunt der Chor. „Zeig mir mal die Nährwertangaben.“ Die große Angst ist da, ein Refrain, der sich durch das Stück zieht: „Hoffentlich nicht unter der Kurve! Weil unter der Kurve heißt Essplan A, und wir wissen, was das heißt!“ – Essplan A ist die dunkle Drohung, die immerzu über ihnen schwebt, die letzte Disziplinarmaßnahme für jene, die nicht ordentlich essen wollen. Die die Nahrung verweigern oder sie heimlich ausspeien, die hinter dem Rücken ihrer Eltern in Pringels-Dosen kotzen, die sie später leeren. Pringels-Dosen, die beginnen, zu stinken, mit der Zeit. Das Erbrochene hängt fest, in ihren Ritzen.
Elisabeth Pape, geboren 1995, aufgewachsen zwischen Berlin und der Ukraine, stellt in ihrem Stück „Extra Zero“ vier junge Menschen vor, die sich in einer Anstalt zur Korrektur ihres Essverhaltens befinden. Den Zwängen, denen sie innerlich gehorchen, steht ein Zwang gegenüber, der nun von außen kommt. Pape wurde für „Extra Zero“ mit dem 28. Kleist-Förderpreis ausgezeichnet. Ihr Stück ist eine Montage aus Einzelschicksalen, statistischem Material, klinischer Sprache, Slogans aus den Welten des Konsums, des Internets, des Wellnesswahns.
Der Uraufführung von „Extra Zero“ im Augsburger Gaswerk unter der Regie von Blanka Rádóczy gelingt es, die grundlegende Ambivalenz des Stückes gut zur Geltung zu bringen: Denn in diesen Figuren, die so durch und durch von außen beschrieben, begriffen werden, regt sich noch etwas. Sie sitzen mit gefalteten Händen und gesenktem Blick an den tristen Kantinentischen ihrer Umerziehungsanstalt (Bühne und Kostüme: Andrea Simeon) und blicken der gefürchteten Mahlzeit entgegen, sie streiten sich um die kleinere Portion. Sie knallen mit den Türen, sie lehnen sich auf und finden doch auch Geborgenheit in ihrer Gemeinschaft. Hinreißend komisch und gelungen ist die Szene, in denen der Pfleger, Verkörperung der Institution, die Vier mit heiterem Gesang aufmuntert und sie dazu apathisch auf Kinderrasseln spielen. Befremdet, angewidert wirkt ihr Blick, als sie den Löffel zum Mund führen.
Der Chor der Essgestörten
„Körperlich retardiert, geistig und emotional altersgerecht wirkende Jugendliche; selbstsichere, aufrechte Haltung; im Kontakt zur Untersucherin freundlich distanziert, zur Mutter abweisend, schadenfroh und gereizt“ – so beschreibt die Institution aktenkundig ihre Neuaufnahme: ein Mädchen, „die mit der Pringels-Dose“. Ute Fiedler spielt sie störrisch, aber klar. Thomas Prazak, in einem T-Shirt mit todernstem Smiley, dessen Mund ein geschlossener Reißverschluss ist, Sarah Maria Grünig und Mirjana Milosavljević wirken wie verlorene, aber aufmüpfige Kinder, Menschen, die auf einer Identität beharren, von der ihnen kaum etwas geblieben ist: im Stück nicht einmal Namen. Sie sind der Chor der Essgestörten. Ein Chor, der hier vielleicht auch auftritt, um die Gesellschaft zu befragen. Der feine Rest an störrischem Widerwillen ist es, der ihr Spiel bestimmt, ihren Figuren Kontur gibt.
„Die mit der Pringles-Dose“, neu in der Anstalt, darf allein von sich erzählen, von ihrer Vorgeschichte, von den Erwartungen der Mutter, vom eigenen Leistungsanspruch, vom allgegenwärtigen Essen und vom Erbrechen. Drumherum der Anstaltsalltag, die ständigen Kontrollen, die Angst, aus der Norm zu fallen, unter die Kurve: „Ran an die Joghurtbecher“, befiehlt die Institution.
Julius Kuhn spielt diese Institution, den einzigen Pfleger, der auftritt. Er steht neben den Tischen und stoppt die Zeit, in der die Essgestörten ihren Joghurt verzehren, er serviert ihnen Blechschüsseln voller Äpfel, er wirkt wie ein Dämon sinnferner Lebensfreude, ein frommes Animationsmonster von kaum zu ertragender Euphorie. Er grinst, er singt, und alle müssen singen: „Danke, für diesen guten Morgen, danke, für diesen neuen Tag!“ Aber er zieht sich auch zurück in sein gut ausgeleuchtetes Stationshäuschen, hinter der Wage, den bunten Gymnastikbällen. In den Regalen liegen die Medikamente bereit. Oder er versucht sich selbst an der Norm, springt, kniet, federt auf dem Anstaltsboden zu Trainingsvideos aus dem Netz – bis er schlapp macht, scheitert.
Die Krankheit als Revolte gegen die Welt
Der fünfte Mitspieler heißt „Strong & Beautiful“ und erscheint auf einer Galerie über den Köpfen aller anderen, als reale Person und als Instagram-Präsenz. Florian Gerteis gibt den Influencer, das topfitte Rollenmodell, das unermüdlich Ratschläge zur guten Ernährung und zum gesunden Körper erteilt. Er ist allgegenwärtig. Er erklärt das Superfood, er erklärt den Sport, er erklärt, wie man ein gesunder Körper wird und bleibt. Und er wird nicht müde. Oder doch?
Am Rand wartet der Beichtstuhl auf ihn, in dem er zuletzt verschwinden wird. Er glaubt, sein Stoffwechsel sei außer Kontrolle. Er nimmt zu, ohne es zu wollen. Er will sich ändern: „Alles wird sich in meinem Leben um Protein drehen“, verspricht er. Die Institutionalisierten haben da weniger Probleme – und mehr Humor: „Wenn ich wieder gesund bin und hier draußen bin, möchte ich zum Karneval in Köln und mich als Hot-Dog verkleiden!“
Noch vor der Augsburger Uraufführung entwickelte der Südwestrundfunk ein Musical-Hörspiel auf der Basis von Elisabeth Papes Stück. „Das Mädchen mit der Pringles-Dose“, so der Titel, zieht eine Parallele zu Hans Christian Andersens Märchen. Parallelen zu Miloš Formans Film „Einer flog übers Kuckucksnest“ scheinen bewusst gesetzt. „Extra Zero“ ist ein Stück, das ein wichtiges Thema aufgreift. Weder die Autorin noch das Theater versäumen es, ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass Essstörungen ein ernsthaftes Gesundheitsproblem darstellen, das noch an Bedeutung gewinnt. Elisabeth Pape hat festgelegt, dass die Rollen der Betroffenen nicht ausschließlich mit Schauspielerinnen besetzt werden sollen.
Zuletzt aber erscheinen die Vier, die in der Anstalt sind, fast schon wie Helden der Verweigerung, ihre Krankheit als eine Revolte gegen eine Welt, in der längst alles bestimmt, kontrolliert, präzise definiert ist. Eine Welt, die dabei jedes Maß verloren hat. „Sie sind alle besessen vom Essen“ – dieser Satz fällt im Stück. Und er gilt gewiss nicht nur für die Essgestörten.