Foto: "Der Ursprung der Welt" mit Katherina Sattler, Lucia Kotikova, Alrun Hofert und Irene Kugler. © Isabel Machado Rios
Text:Nicolas Garz, am 30. November 2020
Es geht um die Tabuisierung der Vulva. Um die Dämonisierung der weiblichen Lust. Um Sprachlosigkeit und das Fehlen von Begriffen, die die Sexualität der Frau angemessen beschreiben würden. Liv Strömquists Comic „Der Ursprung der Welt“ klagt diese große, historisch gewachsene Ungerechtigkeit an. Auf die Bühne gebracht hat Regisseurin Franziska Autzen den Stoff bereits Mitte September am Staatstheater Hannover. Mehr als zwei Monate später hält der sogenannte Lockdown light die Tore der Theater auf unabsehbare Zeit verschlossen, und so war die Inszenierung am vergangenen Wochenende als Stream zu sehen.
Für ihre Bühnenfassung des feministischen Comics wählt Autzen die – mittlerweile an deutschen Theatern fest etablierte – Form der handkeschen Publikumsbeschimpfung. Anstelle des Publikums wird hier jedoch das Patriarchat beschimpft. Dessen Vorurteile, Zerrbilder und Fake News zum Schutze männlicher Vorherrschaft werden ins Rampenlicht gezerrt und in ihre Einzelteile zerlegt. Vier Darstellerinnen (Irene Kugler, Alrun Hofert, Katherina Sattler, Lucia Kotikova) stehen als Anklägerinnen auf der von rotem Teppich gesäumten Bühne. Wütend, schreiend, singend, tanzend und rappend verleihen sie den schnell aufeinanderfolgenden Gedankenschnipseln Kraft und Glaubwürdigkeit.
Am stärksten ist die Inszenierung bereits zu Beginn: Auf orangenen Sitzsäcken lümmelnd, erzählen sich die Darstellerinnen kurze Anekdoten von Momenten tiefer Scham. „Schuld empfindet man für etwas, das man getan hat, und Scham für das, was man ist“, sagt Irene Kugler in einem eindrücklichen Moment, von denen es in dieser Inszenierung allerdings zu wenige gibt. Denn schon springen die Schauspielerinnen zum nächsten Thema und referieren über den Unterschied zwischen Vagina und Vulva, über die weibliche Ejakulation und warum sie kaum je zur Sprache kommt, schließlich über schönheitschirurgische Eingriffe zur Verkleinerung der Klitoris.
Die einzige Leitlinie der eineinhalbstündigen Inszenierung ist die wiederkehrende Rubrik „Männer, die sich zu sehr für das interessieren, was als das weibliche Geschlechtsorgan bezeichnet wird“. Da ist vom Kirchenvater Augustinus die Rede, der in der christlichen Askese jeglicher Sexualität entsagte, nur um in der Abgeschiedenheit wütende Pamphlete gegen die weibliche Lust als Ausdruck des biblischen Sündenfalls zu verfassen. Von dem US-Arzt John-Harvey Kellogg, der sich nicht nur für die Entwicklung zuckriger Frühstücksflocken, sondern auch für die weibliche Onanie interessierte und propagierte, sie sei die Ursache verschiedener Krankheiten. Geschichten zum Kopfschütteln und zugleich traurige Beweise dafür, dass die Unterdrückung weiblicher Sexualität weder Zufall noch Folge von Ignoranz ist – sondern bewusst vorangetrieben wurde und wird.
Bei aller gebotenen Ernsthaftigkeit und Dringlichkeit des Themas sei doch die Frage erlaubt: Macht diese Inszenierung Spaß? Nur sehr begrenzt. Der Grund: Es wird zu viel skandiert, zu viel gebrüllt, zu viel Stakkato im Chor gesprochen, während virtuosere spielerische Mittel nur selten zum Einsatz kommen. Verändert Autzens Inszenierung unseren Blick auf die Welt? Auf jeden Fall. Und zwar vor allem dann, wenn man die Erwartung eines Bühnenstücks im klassischen Sinne – mit Figuren, Dialogen, Spannungsbogen – schnell ad acta legt, und sich stattdessen auf eine bunte Agitprop-Performance einlässt, auf aktivistisch getriebenes Theater.
Dieses Theater will anprangern, demonstrativ und laut. Zu wenig Raum bietet die Comic-Inszenierung allerdings für die leisen und ebenso wichtigen Zwischentöne: für die Zerrissenheit derjenigen, die in einer Welt voller fremder Zuschreibungen ihren Weg finden müssen. Für ihr kleines, alltägliches Seufzen und Wimmern findet „Der Ursprung der Welt“ keine echte Stimme. In dem großen Aufschrei, der auf der Bühne ertönt, würde sie auch schlichtweg untergehen.