Foto: Die neue Truppe: Katherina Nakui, Ka Chun Hui, Dávid Kristóf, Marcel Casablanca und Étienne Gagnon-Delorme © Nik Schölzel
Text:Vesna Mlakar, am 5. November 2018
Zwölf tänzerisch starke Persönlichkeiten sind der Mittelpunkt von „Ludwigs Leidenschaften: Vier Mal Beethoven“. Ihre fesselnde körperliche Energie inmitten riesiger, grobbehauener Felsquader (Ausstattung: Jürgen Kirner) bildet den vielversprechenden Kern der seit Saisonbeginn komplett ausgewechselten Tanzsparte am Mainfranken Theater Würzburg. Unter neuer Doppelspitze wird das Publikum mit völlig anderen Stilwerkzeugen und Formaten des Tanzes konfrontiert, als die sehr viel konkreter mit Handlung arbeitende Vorgängerin Anna Vita dies getan hat.
Seine Feuertaufe hat die junge Truppe, die neun Nationalitäten miteinander verbindet, bereits im September mit einer Werkübernahme der Choreografin Dominique Dumais erfolgreich bestanden. In ihrem zehn Jahre alten „Chansons“-Abend stellte die Frankokanadierin und neue Würzburger Ballettchefin clever die breite Ausdruckspallette und besonderen Fähigkeiten ihrer Kompanie zur Schau. In der zweiten Spielzeitpremiere lässt sie nun – rund um ihre eigene Uraufführung „Falling a/part“ im Mittelteil des assoziationsreichen Abends – die choreografische Handschrift ihres Partners Kevin O’Day zur Geltung kommen.
Der gebürtige Amerikaner wurde als „Artist in Residence“ ans Würzburger Theater verpflichtet. Gerade bei „Ludwigs Leidenschaften“ wird die symbiotische Zusammenarbeit der beiden Tanzschöpfer deutlich. Während im Lauf der Generalsanierung des Hauses täglich Bagger den Vorplatz zur verglasten Eingangsfassade weiter aufreißen, wuchs hinter den Kulissen in nur drei Monaten eine bemerkenswerte Kompanie zusammen. Man brennt darauf, in der ehemaligen fränkischen Residenz- und – nach wie vor – Weinstadt gut anzukommen. Die richtigen Weichen sind jedenfalls gestellt!
Noch bevor es am Premierenabend richtig losgeht, drängen sich die Zuschauer zur Einführung im Parkettfoyer. Die knappen Informationen der Dramaturgin kulminieren – und das großartig professionell! – in einer mehrminütigen Improvisation des Ensembles. Verführung pur. Musik und Tanz zum Anfassen nah – in Kirners Kostümen, die keine Rollen definieren, aber bei jeder Bewegung mitschwingen. Einfühlsam begleitet von zwei Instrumentalisten wird der eigentliche Pausenraum mit seinen zwei flankierenden Freitreppen zum Eventparcours umfunktioniert, mal solistisch, mal in Paaren oder kleinen Gruppen von den gummiweichen und hyperelastischen Akteuren erkundet. Waghalsig lassen die Tänzer Beine oder Oberkörper über die obere Balustrade baumeln. Sie drehen Pirouetten um sich selbst, rollen am Boden, springen wie moderne Satyren und Nymphen durch die Menge und ziehen in kurzen Acts versiert die Register zeitgenössischer Schritt- und Ausdruckspraxis.
Schon dadurch erscheint schlüssig, dass sich diese erste große Tanzproduktion mit Orchester um Aufbruch und Eroberung, um Loslassen, Durchstarten, Abheben, um Rückschläge und die Überwindung äußerer wie innerer Grenzen dreht. Story gibt es dennoch keine. Auch wenn die drei Stücke der Premiere ihre programmatische Klammer aus Leben und Werk des Komponisten Ludwig van Beethoven ziehen. Biografisch prägend für diesen waren zum einen immer wieder unerfüllte Liebessehnsucht, zum anderen der fortschreitende Verlust seines Gehörs. Genialität und Schicksalsschläge des berühmten Künstlers, der Erneuerung anstrebte und persönlich zerrissen war zwischen Selbstbewusstsein und Verzweiflung, dienten diesem Dreiteiler lediglich zur Inspiration.
„In Beethovens Musik kann man das Verlangen hören, etwas Größeres zu erreichen, als unser menschliches Bewusstsein begreifen kann“, erklärt Dumais ihre Herangehensweise. „Seine persönlichen Geschichten brechen an die Oberfläche und machen Raum für die Tiefen der menschlichen Verletzlichkeit, die Leidenschaft, den Sieg und die Niederlage.“ Für die Bühne haben Dumais und O’Day hierfür Metaphern gefunden, die eben diese universelle Gültigkeit von Beethovens Welten widerspiegeln. Manchem Besucher mag das (noch) fremd vorkommen. Doch dürfte es lohnend sein, sich einfach darauf einzulassen, was Tänzerinnen und Tänzer in ihrer Bewegtheit und durch die Interpretation von Zuständen inneren Bewegtseins mitzuteilen haben.
„Ludwigs Leidenschaften: Vier Mal Beethoven“ beginnt eindrücklich. Fünf hochaufragende Mauerplatten riegeln den Raum ab. An der Seite steht ein einsamer Tänzer. So intensiv sein Blick die Steine auch fixiert, ein Durchkommen scheint unmöglich. Kurz bevor das Orchester unter Leitung der jungen Dirigentin Marie Jacquot zu Beethovens „Egmont“-Ouvertüre anhebt, strömen weitere Kompaniemitglieder herbei. Gemeinsam wird die Barriere tänzerisch attackiert, wird sich daran hochgehangelt und das massive Hindernis über Momente hilflosen Durchhängens hinweg nach hinten verschoben.
Sobald der Platz erkämpft ist, bestechen Kevin O’Days „Ouvertüren“ durch fliegende Wechsel der sich stets neu zusammenfindenden Paare. Pausenlos treibt die Musik die modern-athletischen Tänzer im Raum herum, lässt sie dabei wiederholt rückwärts laufen. Grenzen zwischen Chaos und Ordnung verschwimmen. Es entwickelt sich ein choreografischer Sog, der später noch einmal unter veränderten ästhetischen Bedingungen im finalen Cliffhänger mit dem Titel „Landscape No. 5“ fortgeführt wird. Einem Stück, das ursprünglich für das Nationaltheater Mannheim entstand – vormalige Wirkungsstätte der beiden Choreografen O’Day und Dumais von 2002 bis 2016.
In der Würzburger Neubearbeitung schrauben sich die Tänzer kraftvoll durch die Luft. Wie der Atem durchströmt Impulsivität ihre Körper. Nichts wirkt gekünstelt. Alles passiert ganz selbstverständlich aus einer unvermeidbaren Notwendigkeit heraus. Nur im Gruppenverbund könnte das Ensemble mit der Zeit noch mehr zu einer Einheit verschmelzen. Allerdings lösen sich in „Ludwigs Leidenschaften“ Formationen sofort wieder auf. Plötzlich ist die Gruppe ins Dunkel entschwunden und ein Tänzer ganz in Weiß schlägt unter schwarzen Folienpartikeln, die von der Decke schneien, seine Kapriolen.
Góreckis „Quasi una fantasia“ folgt auf Beethovens Ouvertüre zu Goethes Trauerspiel „Egmont“. Hier setzt O‘Day nahtlos den Übergang zu Dumais „Falling a/part“ an. Sein weißer Tänzer fällt zu Boden, wo er drei Kollegen ins Netz geht, die einen roten Stoff mit sich ziehen. Überaus munter und wild gestaltet sich die nächste Sequenz, bevor der Fokus sich erneut auf einen einzelnen Darsteller verengt. Dem Brett, das aus dem Nichts auf ihn kippt, entgeht dieser nur knapp. Man rätselt, warum auf der Breitseite das Wort „unteilbar“ steht.
Dumais „Falling a/part“ basiert (vergleichbar dem Vorspiel im Foyer) auf Improvisation. An manchen Stellen überflügelt das gesprochene Wort den Tanz. Unterschwellig thematisiert wird das Thema „Fallen“, verquickt mit dem symbolträchtigen Motiv des Ikarus. Man hört erst Radiogeräusche, dann dessen übel ausgehende Geschichte aus dem Off. Vor dem Vorhang arbeitet sich eine Frau virtuos an der Schwerkraft ab. Bis der Sendersuchlauf bei Beethovens „Mondscheinsonate“ hängen bleibt. Unter den einfühlsamen Fingern des Gastpianisten Lukas Großmann wird sie zum klanglich divers schillernden Fundament, aus dem eine Gruppe von sieben aufgewühlt Suchenden ihre emotionale Individualität generiert.
Füße flirren übers Parkett, Arme werden eckig gebrochen. Schön ist der Moment, in dem Tänzerinnen über den Rücken der Männer zum Flug abheben. Irgendwann schaffen es die unermüdlichen Interpreten, den immobilen Zuschauer regelrecht zu entschleunigen. Das letzte Solo endet, als der im Hintergrund hochgezogene, mit roter Farbe beschmierte Stoff zu Boden sinkt. Ein starkes Bild – mit der verkrümmten menschlichen Silhouette davor.
Im Spannungsfeld des Schlussteils provoziert eine Amazone das Hinterfragen von Geschlechterrollen und Hierarchien. Inmitten eines Ensembles, das durch eine mobile, rot grundierte Landschaft hechtet, klammert weitgehend unbeachtet der Anbeter an ihrer Schleppe. Lacher erntet sein zuletzt auftrumpfender Gegenspieler. Zwei Pfeile, die ihn durchbohren, sind O’Days Running Gag. Als im Orchestergraben schließlich Beethovens „Sinfonie Nr. 5“ verklingt, stoppt der rasante Tänzerpulk. Eng beieinander halten sie einen Augenblick an der Spitze des Mauerwalls aus liegenden Granitblöcken inne. Dann senkt sich der Vorhang über erwartungsvoll in die Ferne gerichteten Blicken.