Foto: Khrystyna Deilyk in "Zal'ot" am Stuttgarter Kammertheater © Malyi Teatr Kyjiw
Text:Adrienne Braun, am 6. Juni 2022
Chancen hat sie keine: Dieses aufgeweckte Mädchen in pinkfarbenen Leggings könnte sich nach der Schule als Köchin verdingen. Mehr ist nicht drin im Haushalt einer alleinerziehenden Mutter, die sich immer auf das Geld des Bruders verlassen hat. Der ist nun tot. Ausgerechnet er, der als Kapitän große Maschinen nach Sidney flog, ist in der Ukraine schäbig von einem Auto überfahren worden. Damit ist Lidas Traum geplatzt, Stewardess zu werden mit wehendem Haar und schickem Schal à la Isadora Duncan.
Es sollte ein Stück werden, das Mut macht, das sozialistische Erbe abzuschütteln. Das Drama „Zal’ot“ („Fliegen“) der ukrainischen Autorin Luda Tymoshenko sollte im Februar in Kiew uraufgeführt werden am Malyi Teatr. Es taucht ein in die 1990er-Jahre und zeigt ein Land im Umbruch, in dem man Piroggen und Buchweizen isst, „Dallas“ schaut und Pink Floyd hört. Es ist ein Stück voller Symbolkraft, in dem jedes Detail eine Botschaft birgt. Diese Lida träumt vom Fliegen, sie will sozusagen hoch hinaus, raus aus der Tristesse der post-sowjetischen Ukraine, wo das Licht ständig ausfällt und das Wasser knapp ist. Die Mutter dagegen ist in ewigem Lamento versunken, eine alte Krone fault in ihrem Mund.
Optimistisches Gastspiel in Kriegszeiten
Nun wurde „Zal’ot“ nicht in Kiew, sondern am Schauspiel Stuttgart im Kammertheater uraufgeführt – auf Ukrainisch mit deutschen Untertiteln. Denn ein Tag vor der Uraufführung in Kiew brach der Krieg aus. Das Schauspiel Stuttgart hat schnell reagiert und Luda Tymoshenko und eine Kollegin, die Autorin und Schauspielerin Maryna Smilianets nach Stuttgart eingeladen. Sie sind derzeit Stipendiatin an der Akademie Schloss Solitude. Dem Schauspiel Stuttgart ist es auch gelungen, das Ensemble des Malyi Teatr für die Exilpremiere nach Stuttgart zu holen. Kurzfristig konnte man Ausreisegenehmigungen für die männlichen Schauspieler Stanislav Veselskyi und Sergiy Radchenko bekommen. Nach den zwei Vorstellungen kehren sie zurück nach Kiew.
Um sie zu sehen, kamen viele Ukrainer ins Kammertheater, ein vor allem junges Publikum, an das sich diese frische und lebendige Inszenierung von Yurii Radionov auch richtet. Mit minimalem Mobiliar erzählt er diese Geschichte von Lida, die er mit Fantasie und allerhand surrealen Details würzt. Da leuchtet der Küchenschrank, wenn es an der Tür klingelt, und wird das schäbige Bett zum Dach des Hauses, von dem aus Lida mit ihrem Freund über Kiew blickt.
Khrystyna Deilyk spielt diese junge Frau mit Leichtigkeit und Energie – und zeigt mit ihrem kraftvollen Spiel, wie wichtig es für das Ensemble ist, dem Krieg für einen Moment zu entkommen und wieder spielen zu dürfen. Aber schon beim Applaus ist er wieder präsent, als der Regisseur die ukrainische Flagge an den Küchenschrank hängt.
Schließlich gelingt es Lida, ihren Weg zu gehen. Ein Freund des Onkels, Professor an der Universität, verspricht ihr Hilfe, doch bei ihm zuhause erwarten das Mädchen nicht etwa vorab die versprochenen Prüfungsfragen, sondern ein geiler Mann, der Sex zum Lohn fordert. Lida spielt das böse Spiel mit, um dann doch zu fliehen. Sie braucht den Professor nicht, ihre Noten sind so gut, dass sie es aus eigener Kraft schaffen wird. Und auch wenn die sowjetische Vergangenheit die Menschen nun alptraumhaft eingeholt hat, macht „Zal’ot“ Mut, dass der Aufbruch gelingen kann. Letztlich ist es sogar der faulige Zahn der Mutter, der in Richtung Zukunft weist: Sie reißt die marode Krone heraus und verhökert das Gold für einen Neuanfang.