Foto: Paula Dieckmann, Franz Blumstock, Rico Strempel, Jakob Schleert, Mia Dreßler und Fanny Schmidt in "Krankheit der Jugend" am nt Halle © Falk Wenzel
Text:Joachim Lange, am 4. Februar 2023
In dem Stück „Krankheit der Jugend“ lässt Ferdinand Bruckner (1891-1958) eine Gruppe von sieben jungen Leute aufeinander treffen. Da sich deren Studentenbleibe im Wien des Jahres 1923 befindet, das Ende des Ersten Weltkriegs damit erst fünf Jahre zurückliegt, liefert der Krieg den Hintergrund für die Lebensgier der jungen Leute um die zwanzig Jahre, aber auch für ihren Grundzweifel an den Perspektiven einer eigenen „bürgerlichen“ Existenz. Wobei es ja deutlich ungünstigere Perspektiven als ein Medizinstudium gibt. Alle sind auf der Suche nach sich selbst. Einige von ihnen experimentieren mit ihrer Sexualität, andere mit Drogen und gehen sogar bewusst an die Grenzen der Legalität. Erwachsenwerden auf schwankendem Grund. Man ahnt, welche Sprengkraft dieses Spiel mit den Grenzerfahrungen innegewohnt haben muss.
Dass sich eine so profilierte Regisseurin wie Henriette Hörnigk bei ihre Inszenierung mit dem Nachwuchs des Schauspielstudios an den Bühnen Halle nicht auf einen historisierenden Zugriff auf einen zum Klassiker der Moderne avancierten Wurf beschränken würde, war klar. Es war nur die Frage, wie sie die Konstellation in eine Gegenwart projiziert, in der sich ein Teil der Jugend vor aller Augen als selbsternannte Letzte Generation inszeniert, ein anderer in den Blasen eines Individualismus zurückzieht oder mit erstaunlichem Selbstbewusstsein in einer vom neoliberalen Egoismus beherrschten Arbeitswelt vor allem die eigene Work-Live-Balance durchzusetzen versucht. Die Kriegserfahrungen sind zwar in den Erinnerungen und mit der Existenz der Großelterngeneration verblasst, aber die Zeit bietet neue, komplexe Erfahrungen von Klima- und Demokratiekrise bis zur Corona-Pandemie und dem plötzlich wieder aufgetauchten Krieg im Osten Europas.
Mit Freude in den Abgrund
Hörnigk lässt sich davon aber nicht lähmen, sondern springt mit einem ironischen Augenzwinkern in ihre Vergegenwärtigung des fast 100-jährigen Stücks. Sie kalauert sozusagen, wenn sie aus dem Jugendwahn der Gegenwart eine behandlungsfähige Diagnose macht. Die körperliche Verlängerung dieser Lebensphase als Behandlungsziel, versteht sich. Und mit einem Entree, bei dem man sich zunächst im falschen Stück wähnt. Im neue theater in Halle lassen sich viele Orte als Bühne nutzen. Selbst das Foyer, über das man in den Saal der Kammerspiele gelangt. Bühnenbildnerin Clara Wanke hat die Bar für den Pausendrink zum Tresen einer Schönheitsklinik gemacht und dazu auch das ganze drumherum – samt der Galerie eine Etage darüber – entsprechend aufgestylt.
Der junge Schauspieler Jakob Schleert wirbt mit offensivem Verkäufercharme für die Angebote seines Hauses für wirklich alle Regionen des weiblichen und männlichen Körpers, Genitalien inklusive. In der Studenten-WG, die hier offenbar campiert und in deren Beziehungsnetzwerk wir dann hineingleiten, hat er als der große blonde Ludwig den Part des Zimmermädchens Lucy übernommen. Was aber in dem Falle nicht wie Gendern auf Teufel komm raus sondern natürlich wirkt. Dass die erotisch offensive Kraftmaschine im Stück, Freder, ihn dann auf den Strich schickt, wirkt wie eine logische und überzeugend gespielte Entwicklung. Rico Strempel gibt diesen verkrachten Studenten als selbstverliebten Zyniker und Macho ohne Selbstzweifel an seinem Sexappeal. Er wird zum Zuhälter mit der Lust am Untergang. Franz Blumstock ist der „Bubi“ der selbstbewussten, gerade ihre Promotion feiernden Marie. Paula Dieckmann spannt dabei überzeugend den Bogen von der karrierebewußten, jungen Frau bis zur verzweifelten Kämpferin um den von ihr ökonomisch abhängigen und dominierten angehenden Dichter. Der fühlt sich längst zu Irene hingezogen, die ihr bodenständiges Selbstbewusstsein aus ihrem Hocharbeiten bezieht. Für Frieders Ex-Freundin Daisy (Annemarie Hörold) wird der Ausflug in die Drogen der Weg in den Selbstmord. Ein Menetekel für eine verlorene oder vielleicht doch „nur“ immer wieder gefährdete Generation?
Die überspringende Vitalität und packende Spielfreude (sicher noch verstärkt durch die coronabedingte Abstinenz) der angehenden Schauspielerinnen und Schauspieler und die unmittelbare Nähe zum Publikum unterlaufen zum Glück den pessimistischen Grundton des Stückes auf subtile Weise.