Foto: Im Müll der Geschichte?. Szene aus der Uraufführung von Raskatovs "GerMANIA" nach Heiner Müller in Lyon © Stofleth
Text:Roberto Becker, am 20. Mai 2018
John Fuljames inszeniert ”GerMANIA” nach Heiner Müller als Uraufführung an der Opera de Lyon
Man kann das 20. Jahrhundert auch von Leichenbergen aus überblicken. Wenn man es kann. So wie Heiner Müller (1929-1995). Der (ost-)deutsche Nachkriegsautor, der nicht nur in der demonstrativen Liebe zur Zigarre Bertolt Brecht nachfolgte. Und der durch seine dialektische Brille auch die tektonischen Verwerfungen im Untergrund sah, die anderen verborgen blieben. So wie er die Korrespondenzen beim Verlust von Humanität auf der einen wie auf der anderen Seite offenlegte. Kein Wunder also, dass in einer Oper, die auf seinen Stücken „Germania Tod in Berlin“ (1956/71) und „Germania 3 Gespenster am toten Mann“ (1995) beruht, Hitler und Stalin persönlich auftreten. Der Gulag und Auschwitz vorkommen. Die Berliner Mauer und deren Fall.
Der Intendant der Oper in Lyon und designierte Nachfolger von Nikolaus Bachler in München, Serge Dorny, hat den Auftrag für „GerMANIA“ an den Russen Alexander Raskatov (Jahrgang 1953) vergeben. Instinktsicher, was die wieder erwachende Dringlichkeit von Müllers Texten betrifft. Und ebenso instinktsicher, was die Fähigkeit des Russen anbelangt, eine theaterwirksame Musik dazu zu schreiben. Mit seiner Operngroteske „Hundeherz“ (nach Bulgakow) war ihm 2010 zuerst in Amsterdam und dann in London, Mailand und schließlich vor vier Jahren in Lyon ein nachhaltiger Erfolg gelungen. Dorny lag auch diesmal richtig: Der paradoxe Habitus Heiner Müllers hat den Russen fasziniert. Der folgte mit seiner Komposition zugleich dem eigenen Stern und seinem Gegenstand. Mit dieser Kombination landete er einen Volltreffer.
Hinzu kommt, dass auch der szenische Rahmen stimmt. Für den sorgten John Fulljames (Regie), Magda Willi (Bühne) und Wojciech Dziedzic (Kostüme). Wobei die Melange aus Toteninsel und Leichenberg, bei der nur Licht und Perspektive variieren, durchaus etwas mehr Verfremdung ins Groteske vertragen hätte. Doch sie bleibt allemal ein Rahmen, der die Banalität des Alltagsschreckens der schnell wechselnden Szenen noch jedes Mal ins grundsätzlich Absurde weitet.
Die Folge von 10 Szenen beginnt mit einem Dialog des von den Nazis ermordeten deutschen Kommunistenführers Ernst Thälmann (Michael Gniffke) und des Mauererbauers Walter Ulbricht (Ville Rusanen). Der endet nach etlichen Toten vor einer gezogenen Linie mit der Frage „Was haben wir falsch gemacht?“. Dann wechselt die Sprache vom Deutschen ins Russische. Zu Stalin (Gennadii Bezzubenkov) und Trotzki, die sich ihre Utopie des neuen Menschen nicht ohne Liquidierung vieler „alter“ vorstellen können. Zum Wechsel zwischen Deutsch und Russisch kommt der zwischen Oben und Unten. Wenn ein einstiger Gulag-Gefangener als Soldat einen gefangenen Deutschen bestialisch abschlachtet. Oder wenn sich deutsche Soldaten über einen toten Kameraden hermachen…
Neben dem Bruch der Zivilisation auf den Schlachtfeldern des Krieges wird dann der selbstzerstörerische Triumph des Fanatismus in der Szene der drei Witwen, die sich von einem SS-Mann töten lassen, damit sie den Untergang „ihres“ Reiches nicht miterleben müssen. Wenn nur die Köpfe der Toten und ihrer Männer aus den Leichenbergen „Heil Hitler“ skandieren, ist das auch szenisch ein Höhepunkt der Inszenierung und ein Tiefpunkt der Geschichte, die hier aufscheint. Grandios wie hier vor allem die Frauen Sophie Desmars, Elena Vassilieva und Mairam Sokolova mit ihren schrägen hysterischen Koloraturen wie direkt aus dem Höllenabgrund faszinieren.
Dann wieder Hitler, James Kryshak singt ihn mit kreischend hoher Stimme. Sein Ziel ist Walhalla. Goebbels präsentiert seinem Führer die Leichen seiner Kinder. Eva Braun und Schäferhund Blondie sind dabei. In einer Szene der ganze „Untergang“. Der kommt dann tatsächlich – aber nicht als Fest der Befreiung. Zu ein paar verfremdeten Takten der zitierten Siegerhymne kommt die als Vergewaltigung einer deutschen Frau durch einen russischen Soldaten. Wenn der gerade befreite Ehemann sie rettet, den Vergewaltiger erschlägt und dafür seinerseits ins Lager kommt, schlagen die Verwerfung der Mitte des Jahrhunderts und Müller zu. Das ist Dialektik bis zur Kenntlichkeit entstellt. Und der Absprung in die Groteske einer Utopie aus und auf Trümmern. Mit einem Sarg von DDR-Bildhauerikone Fritz Cremer für den toten Brecht, der einfach zu kurz geraten ist, weil der nicht nachgemessen hat. Ganz so wie die DDR zu eng war für den lebenden Dichter. Manchmal kommt der pure Schalk in den anderthalb Stunden durch: etwa, wenn ein rosa Riese an den großen Makabren erinnert.
Die abschließende Szene dann, das „Auschwitz-Requiem“, ist eingebettet in Gagarins berühmten Funkspruch „Dunkel ist der Weltraum“. Ein Satz aus der Rubrik: große Worte, gelassen ausgesprochen. Ungeteilter Beifall in Lyon, vor allem auch für den Argentinier Alejo Pérez am Pult des fabelhaften Orchesters der Oper Lyon, nach einer in jeder Hinsicht packenden Geschichtslektion!