Foto: John Lundgren, Nina Stemme in Wagners "Walküre" © Bernd Uhlig
Text:Clemens Haustein, am 28. September 2020
Menschen, die sich umarmen! Menschen, die sich küssen! Was auf offener Straße kaum mehr möglich ist ohne den Gedanken, bei den Umstehenden moralisierendes Unbehagen zu erzeugen: Auf der Opernbühne ist es möglich. Und Regisseur Stefan Herheim, der nach dreißig Jahren Götz Friedrich-Ring an der Deutschen Oper Berlin die Neuausgabe von Richard Wagners Trilogie inszeniert, macht ausführlich Gebrauch davon in der „Walküre“ – die „Rheingold“-Premiere zum Ende der vergangenen Spielzeit war coronabedingt entfallen.
Bis sich Siegmund und Sieglinde herzen, vergehen keine fünf Minuten seit Aufschlag des Bruders in Hundings Hütte – er torkelt aus dem Schneegestöber herein in Holzfällerhemd und Wanderhose. Und wenn er schließlich das Schwert Nothung zieht, das hier durch den Tastendeckel eines Konzertflügels gebohrt ist (über Herheims Ironie wird noch zu sprechen sein), dann wird nicht lange gefackelt. Das Schwert als Sexualsymbol tritt in eine bereits aufgeheizte Atmosphäre, Siegmund lässt die Hosen herunter und besteigt die Schwester noch auf dem Flügeldeckel. Großes Berührungstheater auch im zweiten Akt, nachdem Wotan, der Möchtegern-Souffleur der Ring-Welt gleich selbst aus dem Souffleur-Kasten steigt, mit Walküre-Partitur in der Hand. Die Noten bleiben bis zum Ende des Abends auf der Bühne. Sie dienen den verschiedenen Figuren, die die Partitur zum Singen zur Hand nehmen, als Gedächtnisstütze und Stefan Herheim als Mittel zur Distanzierung: Seht her, es ist nur ein Stück, was wir hier aufführen! Gleiches bedeutet die Anwesenheit des Flügels, in dessen Tasten hier jeder einmal greift, zum Geschehen im Orchestergraben Pantomime treibend. Eine Idee, die vor Herheim übrigens schon Barrie Kosky hatte in seiner Bayreuther Inszenierung der „Meistersinger“. Ebenso, dass aus dem Flügel Figuren der Oper steigen.
Mit Distanzierung und Desillusionierung solcher Art (der dritte Akt mit Walkürenritt setzt bei vollem Saallicht ein wie auf der Probe) räumt Herheim gleichsam die Bühne frei für die zwischenmenschlichen Tragödien in diesem Werk, einerlei ob es sich auf dem Papier des Dichters nun um einen Gott oder einen Sterblichen handelt. Herheim inszeniert diese Tragödien eindringlich und gekonnt, dabei stets wachen Ohres der Musik folgend. Dass er sich dabei vor allem als Geschichtenerzähler begreift und auf eine übergeordnete, gar politische Deutungsidee verzichtet, mag eine Erklärung sein für die Buhrufe (die sich mit Jubel mischten), die der Regisseur am Ende einstecken musste.
Als politisch jedenfalls sollte man kaum begreifen, wenn das Bühnenbild (Silke Bauer mit Herheim) aus lauter Koffern gebaut ist, zwischen denen sich Heimatlose und Flüchtende einer in der Vergangenheit zu verortenden Zeit bewegen. Sie repräsentieren eine Welt der Unbehaustheit, in der orientierungslose Menschen Zuflucht suchen beim Mythos. Wobei sich die Frage stellt, ob ihnen hier geholfen wird. Es sind Luxusprobleme, wenn Fricka und Wotan in Blütenweiß ihre Ehestreitigkeiten austragen. Was hat das mit dem Alltag jener zu tun, die gebeugt und mit hungrigen Gesichtern um sie herum stehen? Herheim fällt damit (unbewusst?) dem Werk in den Rücken, das er inszeniert. Ebenso, wenn er – wie angedeutet – zu halbherziger Ironie greift. So, wenn Brünnhilde aus dem Konzertflügel emporgefahren wird mit Flügelhelm und Brustpanzer, dabei ein längst abgelachtes Element aus der Wagner-Aufführungstradition zitierend. Auch dass diese Brünnhilde dusselig agierende Walküren um sich schart, verweist auf einen Bereich von Komik, den etwa Barrie Kosky deutlich besser beherrscht. Allerdings kann bei Herheim solcher Slapstick blitzschnell in bitteren Ernst umschlagen, wenn die Walküren zum Ende ihres Rittes von den Helden Walhalls vergewaltigt werden. Wie die Zustände zwischen Liebe und Gewalt wechseln, zwischen Zärtlichkeit und ungebremster Aggression: Das vermag an dieser „Walküre“ durchaus zu fesseln.
Ebenso die musikalische Leistung: Lise Davidsen im Gretel-Kostüm ist eine Sieglinde von jugendlicher Energie und einer Stimme, die Schönheit mit Durchsetzungskraft verbindet; Brandon Jovanovich als Siegmund steht ihr darin kaum nach und zeigt am Ende des zweiten Aktes auch seine Fähigkeit zu liedhaftem, zurückgenommenem Gesang. Annika Schlicht singt eine so einschüchternde Fricka, dass Wotan neben ihr zum Würstchen verkommt, das er hier auch sein soll. John Lundgren als Wotan macht es ihr nicht allzu schwer, eher feingliedrig als wuchtig ist seine Baritonstimme, einen blasierten Gott stellt er dar, dem das Schicksal die Blasiertheit auszutreiben beginnt. Nina Stemmes Brünnhilde ist ihm nicht fern, wenn sie Kraft mit einer Ahnung von Verletzlichkeit verbindet. Im Orchestergraben treibt Donald Runnicles den Strom der Musik voran, ohne darüber den Sinn für Haltepunkte zu verlieren. Selbstbewusst tönt das Orchester der Deutschen Oper, warm und rund ist das Klangbild, in seiner Entschiedenheit vermag dieser spielfreudige Zugriff auch darüber hinwegzutrösten, dass der Blick in die Tiefenschichten der Partitur weniger zu Runnicles‘ Programm gehört.