Mollena Williams-Haas, Thando Mjandana, Bas Wiegers sowie das Sinfonieorchester Bern in "Sycorax"

Auf der Suche nach Heilung

Georg Friedrich Haas/Harriet Scott Chessman: Sycorax

Theater:Bühnen Bern, Premiere:17.09.2022 (UA)Vorlage:Der SturmAutor(in) der Vorlage:William ShakespeareRegie:Giulia GiammonaMusikalische Leitung:Bas Wiegers

Dass Shakespeares „The Tempest“ ein opernaffines Stück ist, haben etwa die Kompositionen von Thomas Adès, Michael Tippett und Frank Martin bereits bewiesen. Georg Friedrich Haas hat sich ebenfalls den Shakespeare-Klassiker geschnappt, um eine andere Perspektive zu erzählen: Die Bühnen Bern brachten nun seine neue Oper „Sycorax“ als Auftragswerk zur Uraufführung.

Dramaturgisch deutlich verschlankt rückt in der Oper eine bei Shakespeare kaum erwähnte Figur in den Fokus: Prospero herrscht über die Inselbewohner*innen und verbreitet Lügengeschichten. Sycorax, die er in einen Baum eingeschlossen hatte, schwingt sich in der Oper zum Befreiungsschlag auf. Als sie ihrem Sohn Caliban, der von Prospero geknechtet wird, begegnet, rollt sie die eigentliche Familien- und Fluchtgeschichte auf, die Prospero vertuscht hat, und reinigt die Insel damit von Unwahrheit und Unterdrückung.

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Das Libretto der Schriftstellerin Harriet Scott Chessman setzt dabei weniger auf Shakespeare’sche Sprachraffinesse als auf Geradlinigkeit: Jeder Satz hat Gewicht, dem Mollena Lee Williams-Haas als sprechende Sycorax mit Würde, Präsenz und Entschiedenheit Rechnung trägt, aber oftmals in einen allzu pathetischen und gravitätischen Sprechgestus umschlägt. Die Rolle wurde auf Williams-Haas (Schriftstellerin, Aktivistin of Color und Ehefrau von Georg Friedrich Haas) zugeschnitten. Dass es im Shakespeare-Stück nicht nur um das Richtigstellen von Lügen geht, sondern um eine Befreiung aus der Kolonialherrschaft, schwingt zwar mit, bleibt aber recht dezent während des Abends.

Haas setzt auf das in seinen Kompositionen sich bewährte Umstimmen der Instrumente, fächert die gewohnte 12-tönige Skala im Verlauf des Stücks auf und hat dadurch eine breitere Palette an Tönen zur Verfügung. Das eher kleine Orchester besteht nur aus Streichern, die mal flächig die Szene eintönen, unvorhergesehen aufsteigen und absinken, mal durch Flageoletts und Umstimmen schillernde, wabernde, trübe, undurchdringliche Klänge erzeugen, die sich jeglicher Konkretheit verweigern. Ein tolles Hörerlebnis, das vor allem auch durch den Chor der Bühnen Bern als Luftgeister großartig ergänzt wird. Diese fein differenzierten (klanglichen) Abstufungen hätte man sich auch bei der Charakterzeichnung der Figuren gewünscht.

Tell our Stories

Die – auch bei Shakespeare schon – lineare und eben simple Geschichte gewinnt nicht recht an Tiefe und man fragt sich, ob es die Shakespeare-Vorlage für diese Erzählung überhaupt braucht. Die Charaktere wirken ausgestanzt. Die Zuordnungen, wer hier Täter*in oder Opfer ist, wer sich als Retter*in und Befreier*in verkauft, erscheint durchschaubar, was den kritischen Impetus der Oper abschwächt. Robin Adams gibt zwar einen einprägsamen, stimmlich brachialen Prospero, kann aber die eindimensionale Charakterzeichnung der Figur (als weißer Unterdrücker) nicht ganz überwinden. Caliban, der bei Shakespeare als „roher Sklave“ abgewertet wird, tritt in „Sycorax“ als Opfer der Kolonialisierung auf. Thando Mjandana zeigt die Figur mit langgezogenen Phrasen und Schluchzern im Zustand emotionaler Entgrenzung, die berührt, aber auch manchmal zu opernhaft-pathetisch daherkommt. Das Potenzial der Ariel-Figur (Mengqi Zhang), deren Übernatürlichkeit und geschlechtliche Ambiguität andere Komponisten für gefundenes kompositorisches Fressen hielten, bleibt bei Haas recht wenig ausgeschöpft und nebensächlich.

Die junge Regisseurin Giulia Giammona, die hier mit ihrer bis dato größten Regiearbeit in Erscheinung tritt, erzählt die Geschichte (glücklicherweise) nicht einfach als Familiendrama. Aus Schläuchen, Gasflaschen, Flugzeugsitzen, Schutzanzügen und Atemmasken haben Anna Schöttl (Bühne) und Axel Aust (Kostüm) einen eindrucksvollen Schauplatz gebaut, der an eine postapokalyptische Welt erinnert. Die Inszenierung verbleibt in einer futuristisch deutungsoffenen und spannungsvollen Vagheit. Giammona begreift Prospero als Privatisierer des Sauerstoffs auf der Insel und flechtet damit den Aspekt um Ressourcenverteilung sowie den Eingriff der Zivilisation in die Natur ein, der das Stück um überdeutliche Aktualität und dramatische Schärfe bereichert. Für Prospero wird die Luft am Ende dünner. Immer wieder greift er zur Sauerstoffmaske und wird schließlich von Sycorax vom Sockel gestoßen.

Das Stück schließt mit einer großen Vision: Der Sauerstoff ist nun wieder für alle da. Sycorax malt eine rosige Zukunft: „A life of peace. No empire. Freedom to question, to love.“ Und ruft auf: „Let us tell our stories.“ Ob aber durch Ressourcengerechtigkeit auch alle anderen Ungleichheiten aus der Welt geschafft sind? Der eigentliche ‚Heilungsprozess‘ liegt noch vor uns.