Foto: "Marienplatz" am Münchner Residenztheater © Sandra Then
Text:Anne Fritsch, am 21. Dezember 2020
Ein Mann verbrennt sich. Und keiner kriegt es mit. Er hat ein Anliegen, das so groß ist, dass er sich dafür mit Benzin überschüttet und anzündet. Er tut das auf dem prominentesten Platz einer prominenten deutschen Stadt. Und doch haben die meisten noch nie von ihm gehört.
Der polnische Autor Beniamin M. Bukowski wurde vergangenes Jahr im Rahmen der Plattform für internationale zeitgenössische Dramatik «Welt/Bühne» zu einer dreimonatigen Schreibresidenz ans Münchner Residenztheater eingeladen. Im Internet recherchierte er über die Stadt, auf der Suche nach einem Stoff – und stieß auf die Meldung, dass sich am frühen Morgen des 19. Mai 2017 ein Mann mitten auf dem Marienplatz verbrannt hat und kurz darauf im Krankenhaus starb. Trotz intensiver Recherche fand Bukowski wenig Informationen über diesen Vorfall – und traf in München auf viel Erstaunen und wenig Erinnern. In Polen dagegen hatte ein ähnlicher Fall für viel Aufmerksamkeit gesorgt: Im Oktober 2017 zündete sich Piotr Szczesny, ein 54-jähriger Chemiker aus der Nähe von Krakau, vor dem Kulturpalast in Warschau an, um gegen die Regierung zu protestieren. Bukowski wollte herausfinden, was da in München geschehen war, was dieser Mann wollte – und warum kaum jemand davon Kenntnis genommen hat.
Er schrieb also sein Stück „Marienplatz“ als eine Detektiv- oder Recherchestory mit seinem Alter Ego im Zentrum. Die Uraufführung fand nun am vierten Advent als Online-Premiere statt. Vier Jahre nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz. Das Datum ist kein Zufall. Der Mann auf dem Marienplatz hatte mit Filzstift einige kryptische Nachrichten an die Nachwelt auf sein Auto geschrieben, darunter auch: „Amri ist erst die Spitze des Eisbergs.“ Er bezieht sich damit wohl auf Anis Amri, der am 19. Dezember 2016 einen LKW in den Berliner Weihnachtsmarkt gesteuert hatte. Während Amri der Terrormiliz „Islamischer Staat“ angehörte, sind die Motive des Toten vom Marienplatz bis heute unklar. Auf welcher Seite er stand, weiß man nicht. Auf seinem Auto stand auch: „Nie wieder Krieg von deutschem Boden.“
Am Residenztheater hat der ungarische Regisseur András Dömötör die Uraufführung von „Marienplatz“ inszeniert. Sigi Colpe hat auf die Bühne einen Weihnachtsbudenzauber mit übergroßen Adventskerzen und einem Spielplatzkarussell in der Mitte gebaut, das Ensemble hat sie in Gewänder aus Steppdecken gekleidet. Harmlos klimpern die Spieler*innen in ihren Buden auf dem Xylophon, hinter ihnen thront die Maria auf ihrer Säule. Dömötör und Bukowski erschaffen eine ziemlich durchgeknallte München-Revue, die sich selbst nie zu ernst nimmt, dem Thema aber dennoch erstaunlich gerecht wird.
Das Residenztheater-Ensemble spielt seine erste Online-Premiere souverän, Kameraführung und Schnitt übersetzen das Live-Erlebnis Theater professionell ins neue Online-Format. Myriam Schröder führt den München-Neuling als Stadtführer, der aussieht wie das Christkind, durch die Besonderheiten dieser Stadt von Reichtum über Hitler, den besten Fußballverein, das beste Theater („die Münchner Kammerspiele“) und natürlich die sehr guten Butterbrezen. In Rekonstruktionen versucht das Ensemble dem Ereignis mit allen Sinnen auf die Spur zu kommen: Wie sieht es aus, wenn jemand verbrennt? Wie hört es sich an? Wie fühlt es sich an? Wie riecht es?
Dazwischen immer wieder Weihnachtsmarkt und Xylophon. Das Banale und das Grausame, hier existieren sie nebeneinander. Dömötör arbeitet mit gutem Timing die Gleichzeitigkeit von Nicht-Zusammengehörigem heraus – oder gehört das alles eben doch irgendwie zusammen? Moritz von Treuenfels fährt als Autor im Autoscooter vor dem Buden-Polizeirevier vor, wo die Polizisten Christbaumkugel-Helme tragen und auf ihre Xylophone tippen. „Wieso wählt jemand den prominentesten Ort einer Stadt und gleichzeitig eine Uhrzeit, zu der er nicht wahrgenommen wird?“ Wer war dieser Mann? Held oder Extremist? Opfer oder Radikaler? „Nie wieder Krieg von deutschem Boden“, immer wieder tönt dieser Satz wie ein Refrain des Abends. Als könnte der Tod des Mannes im Nachhinein doch noch irgendeinen Sinn haben. Andere Selbstverbrennungen und (biblische) Menschenopfer werden zum Vergleich herangezogen. Irgendwo aus dem Raunen tauchen Verschwörungsideen auf.
„Umso mehr ich recherchierte, desto verlorener fühlte ich mich“, so der Autor im Programmheft. „An einem Punkt wurde mir klar, dass über die Motivation des Mannes nichts herauszufinden ist und mein eigentliches Interesse auch nicht darin besteht. Am Ende war der Prozess eher eine Untersuchung dessen, was die Selbstverbrennung für unsere Gesellschaft und für mich selbst bedeutet.“ Und so ist dieser Abend denn auch einer über uns alle. Über die Frage, ob man heute noch Opfer bringen kann in der Hoffnung, etwas zu erreichen. Über die Frage von Schuld und Verantwortung. Vor allem aber über die eigene Ratlosigkeit, die vergebliche Suche nach einer eindeutigen Antwort.