Foto: Nechljudow (Manolo Bertling) als selbsternannter Weltretter in Sibirien © Jörg Landsberg
Text:Jens Fischer, am 9. März 2019
„Wie sehr die Menschen, die sich zu Hunderttausenden auf einem kleinen Erdenfleck angesammelt hatten, diese Erde, auf der sie sich drängten, zu verunstalten suchten, wie sehr sie sie mit Steinen zupflasterten, damit nichts mehr auf ihr gedeihen konnte, wie sehr sie noch jedes Kräutchen, das da keimte, wegrupften, wie sehr sie alles mit Steinkohle und Petroleum verqualmten, wie sehr sie die Bäume stutzten und Tiere und Vögel samt und sonders verjagten – der Frühling war Frühling, selbst in der Stadt.“ Mit diesem zart keimenden Hoffnungssatz startet Leo Tolstoi in sein Erlösungsdrama „Auferstehung“ und Alize Zandwijk dessen Inszenierung. Verblüffend modern wirkt es, wie in dem 1899 veröffentlichten Text der Klimawandel, Zerstörungen urbaner Räume und ökologischer Zusammenhänge antizipiert werden. So fällt es gar nicht auf, dass Armin Petras in seine Dramatisierung des 720-seitigen Romans noch weitere aktuelle Diskurse hineinzitiert wie die zum Fleischkonsum und über Geschlechterrollenklischees. Höchst geschickt balanciert er auch Prosa- und Dialogpassagen aus und konzentriert das alle Ebenen des sozialen Lebens ausleuchtende Gesellschaftspanorama vom Vortag der russischen Revolution auf die Kernhandlung.
Im Raunen eines Ostergottesdienstes beginnt Fürst Dmitri Nechljudow (Manolo Bertling) sich vor sich selbst zu ekeln und begreift es als Schuld, im zynischen Leerlauf gesellschaftlichen Amüsements bisher nur luxuriös dahinvegetiert zu haben – jetzt sucht er Sühne in einem Anna-Viebrock-Bühnenbild, das in diesem Fall Thomas Rupert entworfen hat als angegammelten, trotz surreal verzerrter Türen hermetisch wirkenden Wartesaal. Passend dazu orientiert sich Zandwijk an Christoph Marthaler und arrangiert eine abgerockte Gesellschaft. Zeitlupig drücken sich aristokratische Figuren an den Wänden entlang oder auf alle Vieren herum, bekraxeln ein Klavier, hängen schlapp aneinander oder kreiseln trunken um sich selbst. Jetzt und fortgesetzt grundieren Multiinstrumentalist Beppo Costa und Sängerin Nihan Devecioğlu das Geschehen mit schwerst melancholischen, mal liturgischen, klassischen, folkloristischen oder mit Scateinlagen jazzig aufgebrochenen Musiken.
Da Nechljudow ein guter Mensch in bösen Zeiten werden will, macht er sich schlau in aufrührerischen Ideen – behauptet, dass Eigentum Diebstahl an der Allgemeinheit, Reichtum bequem, aber kein Wert sei. Schon findet er eine Projektionsfläche für seinen Gesinnungswandel – und zwar vor Gericht, wo er als Schöffe geladen ist. Nur an Essenpausen interessierte Kollegen, ein gelangweilter Richter und ein von den eigenen Ausführungen verzückter Staatsanwalt verurteilen eine Prostituierte trotz entlastender Beweislage als Mörderin. In ihr entdeckt Nechljudow das einstige Dienstmädchen Maslowa wieder, in das er sich in Jugendtagen verliebt hatte. Später vergewaltigte er sie und ließ sie schwanger sitzen. Nun möchte er Verantwortung übernehmen. Sie soll Zeugin seiner inneren Reinigung werden.
Fania Sorel spielt das großartig. Strähnige Haare, schäbiges Outfit, leer stierender Blick – sie wirkt anfangs wie eine Wiedergängerin, die trotz lückenloser Verzweiflung versucht, stolzgerade zu gehen. Hat sie doch alles verloren außer ihren Erinnerungen. Die jetzt nochmal gespielt werden. Es war einmal… da stand der jugendliche Fürst wie ein Beglücker da, strahlend, lächelnd – und sie ihm mädchenhaft unsicher gegenüber, schwärmt vom „Prinzen“, von der gemeinsamen Flucht bis ans Ende der Welt. Woraufhin er mit einem achtlosen „Hm“ die Bühne verlässt. Jahre später, als Offizier und Lebemann, entdeckt Nechljudow, wie sich ihr Körper mit weiblichen Rundungen geschmückt hat – und kann den Blick von ihren Brüsten nicht abwenden. Was sie genießt. Lässt dann aber zu, dass er sie „nimmt, ohne sie auszuziehen“, wie es heißt. In den Sekunden der Demütigung altert sie um Jahre, Tränenglanz steigt in die Augen. Zu erleben ist, wie sie innerlich zerbricht. Anschließend mechanisch ihrem Hurenjob nachgeht oder einfach nur kraftlos an eine Bühnenbildwand kuschelt. So dass Nechljudow fragt, was sie davon abhalte, sich sofort in den Tod zu stürzen. Er will das jedenfalls verhindern – also sie und sich heilen, indem er sie heiratet. Bündelweise Geld nötigt er ihr auf. Kümmert sich auch um die Revision des Fehlurteils. Maslowa nimmt es anfangs noch missmutig hin. Will bald aber nicht mehr Objekt zwanghafter Großmut sein, da Nechljudow sich nicht für sie, nur für seine Heiligwerdung und eine himmlische Belohnung für die Selbstaufopferung interessiert. Trotzdem begleitet er sie auf einer Elendsprozession der Versehrten und Verlorenen und folgt ihr ins Arbeitslager nach Sibirien. Natürlich schneit es. Natürlich wollen die Klagelieder der Musikanten nicht enden. Natürlich lernt Nechljudow ständig neues Leid und Elend der Besitzlosen und Unterdrückten kennen. „Den Gestank der Armut.“ Aber auch die Bauern lehnen seine Wohltaten ab, als er ihnen sein Land schenken will. Alles soll so wie früher bleiben, greint ihr Vertreter.
Gedacht war wohl, Nechljudow wie die Ich-Figur in Dantes „Commedia“ durch Hölle, Fegefeuer in den Garten Eden zu führen und dabei beispielhaft Thesenträgern begegnen zu lassen, die alte und neue Heilsideen artikulieren, was auf Erden wider die Orientierungslosigkeit zu wollen, zu glauben, zu tun ist. Die niederdrückende Atmosphäre, die Not, etwas ändern zu müssen, vermittelt sich auch im elegischen Nachbilden der Handlung. Nicht aber der Widerstandsgeist. Für den Nechljudow entflammt. Er nervt das Stückpersonal mit seinen Bergpredigten als Ausdruck der religiösen Kehrtwende Tolstois zum christlichen Anarchismus. Alles Leben und vor allem uneigennützig den Nächsten sollen wir lieben, in Besitzlosigkeit brüderlich zusammenarbeiten, rigoros einfach und bedürfnislos sein. Also auch nicht länger die Natur unterwerfen, sondern uns ihr unterwerfen. Um aber das Werden der Läuterungsideen, um Nechljudows moralischen Konflikt dramatisch, den Kern der Aufführung lebendig werden zu lassen, hätten Zandwijk/Petras sich bei Goethes zwar ganz anders, aber ebenso groß nach einem österlichen Urerlebnis Auferstehenden eine Anregung holen können: Faust hat mit Mephisto ein Gegenüber für all die Auseinandersetzungen um sein neues, zweites Leben. Nechljudow nur seine wohlfeil ermüdenden Reden.
Schließlich werden ihm Kirchenkerzen angezündet und in den Raum gehängt, als bilden sie eine Leiter zum Himmel. Nechljudow legt sich darnieder und übergibt sein Leben dem, was er Gott nennt. Und die ansonsten immer so wundermächtig empathisch inszenierende Zandwijk hat die Aufführung endgültig im Pathos erstickt.