Das Kölner Schauspiel und der Regisseur Rafael Sanchez haben jetzt im Umgang mit dem Stoff ein völlig neues Kapitel aufgeschlagen. Thomas Dreißigackers Bühne lässt sich kaum schlichter denken: Eine Stuhlreihe, rechts und links Wände mit Kleiderhaken, hinten eine statische Meeresproduktion. Hier gibt es kein „großes Theater“. Hier wird schlicht erzählt, wissend und warnend. Zwei Schauspielerinnen und vier Schauspieler spielen alle Figuren, deuten Rollenarbeit an durch Stimme, Körper, Haltung und Kostümdetails, leisten Präzisionsarbeit im Großen wie im Kleinen, bewahren dabei ihre künstlerischen Identitäten und machen diese produktiv für den Abend. Rafael Sanchez gelingt es, die historische Erzählung und den zwangsläufigen Gegenwartsbezug im Gleichgewicht zu halten. Stärker als Janusz Kica bei der Wiener Uraufführung bricht er das Stück auf, um Spielmaterial zu finden, die rumpelstilzchenhaften Ausbrüche des Nazis Schiendeck etwa, hemmungslos genau hingestellt von Stefko Hanushevsky, kleinere Tanz- und Gesangseinlagen oder der wurschtig, fast wie eine Klassensprecherwahl wirkende, chaotisch ausfransende kubanische Regierungsrat. Dazu erfindet Sanchez, gerade an den Sollbruchstellen des Stückes im letzten Drittel, hinreißend ironische Bildminiaturen: Da wird der von Sturheit und gegenseitigen Vorwürfen geprägte Dialog zwischen einem britischen Staatssekretär und dem amerikanischen Botschafter von Kinder-Darstellerinnen als groteskes Kasperl-Theater entlarvt; und wenn der Kapitän sein Schiff vor der englischen Küste auf Grund setzen will, um alle zu retten, läuft Peter Lohmeyer mit einer kleinen Nebelmaschine über die Bühne und dampft alles ein. Keine Größe, nirgends. Nur Menschen, keiner ohne Fehler, also alle immer gefährdet. Es gibt keine Sicherheit. Alles kann sich wiederholen. Jederzeit.
Dass diese Essenz so herauskommt, hat ursächlich mit Stückfassung und Besetzungsauswahl zu tun. Deshalb sei hier die Dramaturgin Stawrula Panagiotaki ausdrücklich gepriesen. Zusammen mit dem Regisseur hat sie die Schwächen des Stückes kenntnisreich entschärft, die Konstellation leicht eingedampft, das Dokumentarische zugunsten von Spiel und Ausdruck zurückgedrängt und die Konzentration auf den Kapitän im letzten Drittel ausgeglichen. Der ist mit Peter Lohmeyer treffend besetzt. Ein Alien auf dem eigenen Schiff, einer der bewusst mit Verdrängungsprozessen ringt und doch immer wieder dem systembejahenden Kleinbürger in sich den Vortritt lässt. Wie gerne wäre er einfach Traumschiffkapitän! Wenn er auf seinem Stuhl sitzt und zuschaut, schaltet er sich ab, gehört als Rolle nicht mehr dazu, bleibt als Schauspieler Lohmeyer aber Teil des Spiels, was dadurch dokumentiert wird, dass er zwei weitere Rollen übernimmt. Und er hat eben den Charme des Peter Lohmeyer, dem er gelegentlich absichtsvoll die Zügel schießen lässt. Und er hat starke Partner. Den bissigen, wandlungsfähigen, eindringlichen, seltsam puristischen Stefko Hanushevsky. Nikolaus Benda und besonders Justus Maier mit ihrer direkten, kraftstrotzenden Energie, Kristin Steffen mit ihrer biegsamen, aber nicht schwachen Sanftheit. Sie alle spielen mehrere Rollen und beglaubigen mit jeder die Erzählung.
An einigen Stellen, zumal in den Szenen mit der spürbar um Klarheit und Präzision ringenden Birgit Walter, wäre von Seiten der Regie etwas mehr Input, etwas mehr Finetuning wünschenswert, droht dieser schöne Abend ins Ungefähre zu verdämmern. Aber über weite Strecken erreicht er sein Publikum und fängt es ein. Daniel Kehlmanns „Reise der Verlorenen“ scheint auf der Bühne angekommen.