Foto: "Die Entfernung der Amygdala" am Theater Baden-Baden © Jochen Klenk
Text:Björn Hayer, am 29. April 2013
Nina Krohn (Catharina Kottmeier) steckt in einer existenziellen Zwickmühle: Um ihren lebensbedrohlichen Hirntumor entfernen zu können, müssen die Ärzte zuerst die davor liegenden Amygdala, ein für Emotionen zuständiges Gehirnareal, entfernen. Geht sie diesen Weg, wird sie leben, aber ohne Bewusstsein. Nutzt sie die ihr noch verbleibende Zeit ohne Operation, wird sie sterben, aber als Mensch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Die Uraufführung „Die Entfernung der Amygdala“, ein ungemein reflektierter Bühnenerstling des Autors Markus Orths in Baden-Baden, versteht sich als ein philosophisch-bioethisches Laboratorium, das stets nach den heutigen Möglichkeiten menschlicher Autonomie fragt.
Nina ist zerrissen, bereitet aber alles für ihr baldiges Ableben vor. Bereits die erste Szene spielt in einem Beerdigungsinstitut. Ein weißer Sarg kommt aus dem Boden gefahren. Zusatzoptionen, wie die Erstellung eines passenden Grabsteins via Mausklick werden besprochen. Unverhoffter Dinge geht die Protagonistin wenig später ins Netz, sucht auf „Akademikertreff.de“ nach geeigneten Damen, die ihren Mann und Philosophen Paul (Thomas Höhne) nach ihrem Tod versorgen können. Felix Grüning, der mit Mikrofonstimme ihr Smart-Phone verkörpert, ist ein wahrer Lichtschein dieser Aufführung. Obgleich sich der mobile „Gott“ als allwissende Universalmaschine zu erkennen gibt, kann er Ninas Dilemma nicht lösen. Selbst wenn die Regisseurin Katja Fillmann diesen findigen Technikus mit frohlockendem Charme und Slapstick auf die Bühne bringt, offenbart sich darin jedoch das kritische Potenzial des Stückes. Es ist eine witzig-herbe Absage an ein mechanistisches Weltbild, in dem der Mensch selbst von der Maschine überwunden zu sein scheint.
Die Bühne wird dabei in lässiger Manier zum Schauplatz weltanschaulicher Diskussionen. Als Nina über das Internetportal auf die Neurochirurgin Jasmin (Anne Leßmeister) stößt, glaubt sie mit ihr nicht nur eine geeignete Partie für Paul, sondern zugleich eine kompetente Medizinerin für ihr Problem gefunden zu haben. Doch der Philosoph, der übrigens als einziger noch nichts von Ninas Tumor weiß, und idealistische Kämpfer für Geist und Seele und die Rationalistin geraten aneinander. Willensfreiheit hin oder her. Als die Todgeweihte in verzweifelter Lebensgier zuletzt noch mit dem Bestatter (Oliver Jacobs) buchstäblich in die Kiste (nämlich im Totenhemdchen im Sarg) springt, überkommt auch die anderen beiden das Begehren, das ihnen ihr Gewissen jedoch versagt. Komik und Melancholie liegen in dieser Tragischen Komödie nah beieinander. Besonders delikat mutet vor allem eine Videoprojektion an: Während Nina hinter einer durchsichtigen Leinwand wie eine Leiche auf einem Obduktionstisch liegt, sieht der Zuschauer eine den gesamten Bühnenraum bedeckende Nahaufnahme ihres Gesichts. Doch das Bild ist keineswegs statisch, es wandelt sich zum Gesicht des greisen Vaters. Da er als geistig umnebelter Pflegefall ans Bett gefesselt ist, suggeriert dessen Projektion auf das Gesicht der Tochter deren grauenhafte Zukunft. Diese ist klar dem Leben zugewandt, aber zugleich einer Existenz ohne Bewusstsein. Das Ende lässt die Regisseurin zuletzt glücklicherweise offen. Dass Nina so oder so ein Tod bevorsteht, ist sicher. Nur die Frage nach dem Wie scheint eine genuin ethische zu sein. In Baden-Baden wird Philosophie lebbar und geht mit dieser fabelhaften Aufführung weit über die Bühne hinaus.