Foto: Gefangen im Unterholz diffuser Gefühle: Mélisande (Camilla Tilling) und Golaud (Oliver Zwarg) in der Inszenierung von Alex Ollé.
© Matthias Creutzinger
Text:Detlef Brandenburg, am 24. Januar 2015
Claude Debussy, Pelleas et Melisande, Maurice Materlinck, La Fura dels Baus, Alex Olle, Marc Soustrot, Semperoper, Dresden, Oper Musiktheater, Theater
Eins ist mal sicher: Die neue „Pelléas“-Inszenierung an der Dresdner Semperoper bietet spektakuläre Schauwerte. Der Bühnenbildner Alfons Flores hat die Bühne des hohen Hauses geflutet: Knöchelhoch bedeckt das Wasser den vorderen Teil, so dass es platscht und spritzt, wenn hier einer auftritt. Inmitten des Wasserspiegels aber – und das ist wörtlich zu verstehen, denn alles, was auf der Bühne steht, auch das Licht, wird hier sehr malerisch gespiegelt – mittendrin also steht eine Art Container-Gruft: von außen eigentlich quadratisch, aber geschickte Projektionstechnik lässt die Oberfläche des Quaders bisweilen wie eine schrundige Felswand erscheinen. Die wiederum kann auf spektakuläre Weise transparent werden oder ganz verschwinden. Dann offenbart sie ein zweistöckiges gruftiges Innenleben mit honiggelb zerklüfteten Wänden und allerhand Interieurs: eine lange Tafel für die familiären Mahlzeiten im Hause Arkels, steile Treppen und verwinkelte Flure, Golauds und Mélisandes Ehebett als Brennpunkt der hier zu verhandelnden Gefühlsverstrickungen. Und auch die inneren Felswände wiederum können transparent werden und sich wieder schließen, so dass man manchmal den Eindruck hat, als träte eine Figur unmittelbar aus der Wand heraus.
Man kann sich vorstellen, was sich mit so einem Bühnenwunderkasten alles an Effekten zaubern lässt. Und man wird sich nicht wundern, dass der Regisseur Àllex Ollé von diesem Wunderkasten ausgiebig Gebrauch macht. Ollé nämlich ist einer der Protagonisten der katalanischen Totaltheatertruppe La Fura dels Baus. Und die haben sich seit ihrer Beteiligung bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 1992 in Barcelona als Showmaster der internationalen Opernszene profiliert. Aber man sollte Ollés Inszenierung trotz seiner erkennbar innigen Liebe zum Effekt nicht zu voreilig über diesen Leisten schlagen. Denn diese Welt aus Wasser und Gruft, schimmerndem Gestrüpp und dunkler Tiefe passt natürlich schon sehr genau zur schicksalhaft durchwitterten Atmosphäre des düsteren Schlosses Allemonde mit seiner Lage am Meer, seinen Brunnen und Grotten, Kellern und dunklen Wäldern.
Und man sollte vor lauter Effekt auch nicht das genaue Hinschauen aufgeben. Denn Ollé arbeitet, unterstützt von seiner Mitarbeiterin Susana Gómez, sehr geschickt mit Symbolen und szenischen Akzenten, die die Geschichte mit Bedeutung aufladen. Der Kostümbildner Lluc Castells hat diese durchweg gestiefelten (wie auch sonst, bei all dem Wasser!) Schlossbewohner, zu denen auch drei adrette und darstellerisch sehr aktive Dienstmädchen gehören, in zeitlose Kleider zwischen Gestern und Heute gesteckt. Und dieses Personal entfaltet vor allem in den orchestralen Zwischenspielen ein rätselhaftes Eigenleben, das ein eigenes Licht auf die Geschichte wirft. Nur leider fehlt hier oft die gedankliche Präzision, die auch das Rätselhafte braucht, wenn es sich spannend mit der Handlung verbinden soll. Vieles wirkt einfach nur anekdotisch, wie ein unverbindlicher Einfall. Dabei neigt Ollé zudem dazu, seine Figuren um des Effekts willen vorzeitig zu denunzieren. Dass Mélisande schon beim ersten Treffen mit Golaud schwanger ist, zerstört ja gerade das schwebende Rätsel um diese Figur und gibt ihrer Verzweiflung eine allzu eindeutige Begründung. Und wenn Arkel schon im ersten Akt seiner Schwiegertochter Geneviève an die Wäsche geht, ist man viel zu schnell fertig mit ihm. Kein Wunder, dass sich nach und nach, wenn man sich an die Schaueffekte gewöhnt hat, eine gedanklich diffuse Langeweile breit macht.
Aber da ist ja noch die Musik, die die Staatskapelle unter Marc Soustrot wirklich wunderbar einfühlsam aus dem Graben aufsteigen lässt. So hauchzart atmend, so pastellfarben delikat habe ich Debussys Oper selten erlebt. Wobei Soustrot durchaus auch mit zwingenden Steigerungen für dramatische Spannung sorgte, wo das gefordert ist. Ein starkes Dirigat. Und auch die Sänger, nicht spektakulär, aber allesamt gut, fanden zu einer Kultur des fein aufeinander abgestimmten Ensemblesingens, die gerade an international aufgestellten Häusern längst nicht mehr Standard ist. Die Schwedin Camilla Tilling ist eine Mélisande von sehr mädchenhafter Prägung: ein silberklarer, beizeiten innig leuchtender Sopran, der eine apart schillernde Soubretten-Leichtigkeit mit in die Partie bringt und so das Laszive dieser Rätselfrau betont. Phillip Addis singt seinen Pelléas aus fundierter Bariton-Tiefe, die Höhe hat strahlendes Metall, klingt im Piano allerdings gelegentlich etwas dünnblechern. Oliver Zwargs Golaud hat fundiertes Volumen und dunkel strahlende Aura, Tilmann Rönnebeck ist ein Arkel von markant angerautem Timbre, verfügt aber, wenn gefordert, auch über ein weich fließendes Legato. Christa Mayer schließlich gibt der Geneviève einen dunkelherben Bronzeton. Geradezu umwerfend aber sang der Tölzer Knabe Elias Mädler den kleinen Yniold: so souverän in Intonation, Gestaltung und Handhabung der Register, dass man in Dresden sogar seine Soloszene im vierten Akt spielen konnte. Großartig!
Schon beim Gang über den nächtlichen Theaterplatz nach der Vorstellung allerdings traten die Rätsel im Kopf und Schwingungen im Herzen, die man aus dem Opernhaus mit nach draußen gebracht hatte, in den Hintergrund. Für den nächsten Tag hatte sich Pegida zur Stimmungsmache vor der Semperoper angesagt. Und man wurde das seltsame Gefühl nicht los, dass es in diesen ungemütlich bewegten Tagen wichtigere Dinge gäbe als rätselhafte Opernmädchen.