Foto: "The Second Detail" von William Forsythe © Yan Revazov
Text:Frank Weigand, am 5. Mai 2019
Dunkelheit. Metallisches Surren. Auf halber Höhe des Bühnenraums leuchtet eine ringförmige Struktur auf. Weiße, senkrechte Striche, die eine Art Barcode bilden. Ein tiefer Basston, der bis in die Eingeweide grummelt. Die Striche verfallen in eine kreisende Bewegung, lassen nach unten hin einen Lichtkegel entstehen. Nach und nach erscheinen darunter einzelne Silhouetten. Zweier- und Dreiergruppen platzieren sich im Licht, mit dem Rücken zum Publikum. In hellbraunen und dunkelblauen Latexkostümen glänzen sie wie Reptilien im Halbdunkel. Individuen huschen echsenartig herbei, verharren kurz im Licht, rennen hinaus in die Finsternis, während der Basston zum rhythmischen Beat wird. Über den Tänzern dreht sich weiterhin die rätselhafte Installation aus Strichen. Das Bilden und Zerfallen von Gruppen aus Körpern scheint den Tanz der Lichtstruktur über ihren Köpfen aufzunehmen, zu spiegeln, manchmal auch zu variieren.
Diese knapp fünfminütige Eingangssequenz fasst bereits die Essenz von Richard Siegals halbstündiger Choreografie „Oval“ zusammen, die er den Tänzerinnen und Tänzern des Berliner Staatsballetts und der Bühne der Staatsoper Unter den Linden auf Leib und Raum schneiderte. Körper und Bühnenmaschinerie stehen hier mindestens gleichberechtigt nebeneinander. Ja, oftmals scheint sogar das zwischen Himmel und Erde aufgehängte Oval aus LED-Zellen, das zuweilen in die Schräge kippt und zuletzt herabfährt und die Tanzenden umgibt, der eigentliche Protagonist. Flackereffekte, fließende Lichtbahnen und Augenblicke plötzlicher Finsternis strukturieren die Aktionen des Ensembles und wirken immer wieder wie der eigentliche Tanz des Abends.
In Zusammenarbeit mit dem Komponisten Carsten Nicolai (alias Alva Noto) und dem Lichtdesigner Matthias Singer hat der amerikanische Choreografiestar und Multimediakünstler in seiner ersten Auftragsarbeit für das Staatsballett eine merkwürdig faszinierende Heterotopie vorgelegt. In dem Universum aus Licht, Klang und beeindruckender Technik bewegen sich hochtourige, verzerrte, exzessiv auf Spitze gestellte Leiber in einer post-humanen Variation über die Entwicklung des klassischen Tanzes. Mal sexy-aggressiv, mal kreatürlich getrieben, winden, springen und schlingen sich sechs Tänzerinnen und sechs Tänzer durch ein apokalyptisches Hell-Dunkel, das in seiner überwältigenden Theatralität existenzielle Gültigkeit behauptet. Dabei ist das eigentliche Ereignis nicht die künstlerische Handschrift Siegals, die bei aller Bewegungsrecherche ästhetisch oft gefährlich nahe am Überwältigungskitsch angesiedelt ist, sondern die erdige Souveränität und Freude am körperlichen Exzess, die das Staatsballett-Ensemble hier unter Beweis stellt.
Zunächst erscheint die kuratorische Idee, Siegals „Oval“ als dritten Teil eines Abends nach zwei Ballettklassikern der Moderne zu präsentieren, nur mäßig originell. Zwar zeigen George Balanchines gegen Ende ins Jazztanzartige abdriftende Hommage an das romantische Ballett „Theme and Variations“ (1947) und William Forsythes legendäres „The Second Detail“ (1991) den Weg, den das Ballett im 20. Jahrhundert vom Beginn der Abstraktion hin zur Postmoderne zurücklegte – und Siegal könnte somit als erster Vertreter des 21. Jahrhunderts gelten. Doch bleibt diese Mischung aus Neuem und Bekannten im Grunde entsetzlich konventionell.
Allerdings erlaubt genau dieser brave historisierende Ansatz dem Ensemble, seine Wandlungsfähigkeit und gleichzeitig gemeinsam entdeckte Körperlichkeit unter Beweis zu stellen. Während in Balanchines Petipa-Hommage zu Tschaikowskis Suite für Orchester in G-Dur (klar und nahezu kitschfrei dirigiert von Paul Conelly) die Gastsolistin Maria Kochetkova mit beinahe automatenhafter kühler Perfektion die bravourösen Kunststücke absolviert, legen Daniil Simkin als männlicher Counterpart und vor allem das Corps de Ballet eine Leichtigkeit und Frische an den Tag, die auch in den spieluhrartigsten Momenten stets Menschlichkeit und Freude durchschimmern lassen. William Forsythes postmoderner Klassiker „The Second Detail“ von 1991, der oft mit roboterhafter Härte dargeboten wird, scheint hier so fließend und organisch, dass man beinahe vergisst, welch unglaubliche Koordinationsleistung die ständigen Fokus- und Richtungswechsel den Tänzern abverlangen. Die Neueinstudierung der bereits seit 2006 im Repertoire der Company befindlichen Choreografie (durch die beiden Forsythe-Tänzer Amy Raymond und Noah Gelber) ist ein absoluter Glückfall. „The Second Detail“, das im schlimmsten Falle wie ein angestrengtes Experiment mit der Verzerrung klassischer Form daherkommen kann, bekommt hier ein augenzwinkerndes Understatement, das ganz im Sinne seines Schöpfers wäre.
Bei diesem Stück des Abends wird auch deutlich, dass Ballett und zeitgenössischer Tanz heute längst keine Antagonisten mehr sind. Den Interpreten des Staatsballetts ist in jeder winzigen Geste anzusehen, dass die Grundlage ihrer Arbeit nicht mehr harte Selbstkasteiung ist, sondern ein Hineinhorchen mit Hilfe somatischer, körperfreundlicher Praktiken. Die Körper auf der Bühne sind im besten Sinne des Wortes „intelligent“ und absolut heutig und machen den plötzlichen Auftritt der mysteriösen „Frau im weißen Kleid“ am Ende der Choreografie zu einer gutgelaunt expressionistischen Hommage an Pina Bauschs „Sacre du printemps“.
Jenseits der drei präsentierten künstlerischen Handschriften ist der Abend also vor allem eine beeindruckende Demonstration glücklicher künstlerischer Zusammenarbeit. Nach allen anfänglichen Unkenrufen hat das Staatsballett unter der Ko-Leitung von Johannes Öhmann und Sasha Waltz zu einer atmenden, zeitgenössischen Bewegungsqualität gefunden. Man darf gespannt sein, zu welchen Leistungen dieser Ballettkörper in den nächsten Jahren fähig ist.