Foto: Perfekt synchronisierte Gruppenchoreographien, hier mit Jillis Roshanali, Francesco Fasano, Vincent Tapia und Caetana Silva Dias. © Stephan Walzl
Text:Martina Burandt, am 27. Januar 2020
Mit einem beeindruckenden Anfangsbild beginnt die neueste Choreographie von Antoine Jully. Beinahe alle Tänzerinnen und Tänzer des 14-köpfigen Ensembles sitzen auf schwarzen Würfeln mit dem Gesicht zum Zuschauerraum. Wie in den fließenden Wellenbewegungen von Kettenreaktionen zeigen sie in schneller Folge unterschiedliche Gesten und Bewegungen. Mit Schulterzucken, Kopfdrehen oder geometrischen Armbewegungen geht es auf, unter und um die Würfel. Musik setzt ein: Die Mezzosopranistin Rebecca Jo Loeb beginnt zu singen, am Klavier Piotr Fidelus und am Violoncello André Saad. Die drei Musikerinnen und Musiker befinden sich in einer Art Ausschnitt des Bühnenbildes, einer strukturierten Plastik an der Bühnenrückwand.
In „Vanitas. Natura morta in un atto“ von dem 1947 geborenen italienischen Komponisten Salvatore Sciarrino sind die Klänge beinahe wie Geräusche. Diese Musik wirkt unmittelbar auf unsere Gefühlswelt und ist schwer greifbar. Grundlage für Sciarrinos Komposition ist das 1927 entstandene Lied „Stardust“ von Hoagy Carmichael, das sich um Leere dreht und das Thema Vergänglichkeit reflektiert. Der Begriff Vanitas stammt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie Nichtigkeit, Eitelkeit und Leere und verweist auf die Endlichkeit unseres Seins. Es gibt eine Vanitas-Motivik mit bestimmten Symbolen, die in den unterschiedlichen Künsten als Bedeutungsträger herangezogen werden – wie die Rose für die Liebe oder eine Kerze für die menschliche Seele.
Die 70-minütige Choreografie von Antoine Jully zeigt neue, auch symbolträchtige und manchmal skurrile Bewegungsqualitäten: insektenartige Rückwärtsbewegungen, Männer im Spitzentanz und gestische Bewegungsfolgen, die manchmal an Pina Bausch erinnern. In einer für Jully gewohnt raschen Abfolge von Zusammenkünften und Zerstreuungen kreist der Abend auch tänzerisch um die Thematik von Vanitas. Perfekt synchronisierte Gruppenchoreographien wechseln sich gekonnt mit Solos und Duos ab, lösen sich auf und finden temporeich und fließend wieder neu zusammen. Diese Flüchtigkeit und Wiederholung ist zunächst ein passender Ausdruck von Zeit und Endlichkeit; dann dem ständigen Kreislauf von Leben und Tod.
„Vanitas“ ähnelt einem bewegten Bild, in dem sich nach und nach immer mehr Themen und Details entdecken lassen. Und gäbe es innerhalb der ständigen Wiederholungen nun auch den Mut zu Brüchen, beispielsweise in Tempo-Variationen wie Zeitlupe oder Standbildern, dann wäre auch die thematisch vorgegebene Leere und Stille greifbar. Dagegen kann das atemlos fließende Tempo, die choreographische Fülle sowie die immer wieder gezeigte technische Perfektion der Compagnie auch ermüden. Setzt man zu viel darauf, geht ein Stück der Tiefe verloren, die so berühren kann, wie Sciarrinos Musik. Das beweist der wunderbare Bruch zum Schluss der Choreographie, wo Jully – bevor wieder alle gestikulierend in einer Reihe sitzen wie am Anfang – mit Léo Ferrés „Avec le temps“ eine neue Musik einsetzt, zu der zunächst die Tänzerin Adi Hanan einen wunderbaren Tanz beginnt, bevor immer mehr Ensemblemitglieder dazu kommen. Das berührt das Herz und ist zum Weinen schön!