Foto: Eine Installation aus 800 tränenförmigen Glasobjekten - und verwirrende Gleichzeitigkeit (Ensemble). © Maarten Vanden Abeele
Text:Hans-Christoph Zimmermann, am 23. August 2019
Schon bei Thomas Mann war dieser Satz eher Pose als Selbstkritik: „Ich sage Ihnen, daß ich es oft sterbensmüde bin, das Menschliche darzustellen, ohne am Menschlichen teilzuhaben“, sagt der Künstler Tonio Kröger. Schon immer war das Verhältnis des Künstlers (nicht der Kunst) zur Realität ein prekäres. Auch Jan Lauwers beschäftigt sich in seinem neuen Stück „All the Good“ mit seinem Verhältnis zur (gewalttätigen) Wirklichkeit. Während Lauwers und seine Needcompany nämlich 2016 in den Brüsseler Stadtteil Molenbeek umzogen, verüben Terroristen aus dem Viertel Bombenanschläge, denen die Tochter Romy Lauwers nur knapp entgeht. Die Sprengkraft des Realen hatte die heile Kunstwelt offenbar eingeholt.
„All the Good“, das die Ruhrtriennale in der Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck als Uraufführung zeigte, ist radikal solipsistisch. Lauwers bringt seine Künstlerfamilie, sein Atelier und sogar sich selbst auf die Bühne. Während Ehefrau Grace Ellen Barkey, Tochter Romy sowie Sohn Victor sich selbst verkörpern, wird Vater Jan von Benoît Gob gespielt – allerdings beobachtet vom realen Jan Lauwers als outside eye: Kunst unter Aufsicht.
Doch die Gewalt hat schon vorher Einzug gehalten in dieses archipelförmige Atelier mit Inseln für eine Werkbank, eine Bildschirm-Staffelei, für eine Installation von Glasobjekten, für die vier Musiker (Bühne: ebenfalls Jan Lauwers). Der Freund einer Tänzerin wurde vor ihren Augen erschossen; der Vater der Geigerin hat Selbstmord begangen, der Tänzer Elik Niv war israelischer Elitesoldat, bevor er sich zum Tänzer ausbilden ließ. Und auch innerfamiliär geht es zur Sache. Wenn die Tochter ein Bild ihrer Vagina als „Bild, das alle Bilder erklärt“, präsentiert, kommentiert ihre Mutter lakonisch, dass alles in der Kunst schon mal dagewesen sei. Und zur Schimmelpilzinstallation des Sohnes in einer Bäckerei sagt der Vater nur, dass ihm ein gutes Brot lieber wäre. Künstlerfamilien waren also auch immer ein Hort der Gewalt.
Jan Lauwers neuer Theaterabend ist alles andere als stringent. Er verbindet nicht nur Sprechszenen mit Tanz und Musik, er offeriert auch zahlreiche lose Fäden von Geschichten, die allerdings subkutan einen Bezug zu Gewalt und Leiden aufweisen. Der düster verzweifelte Bühnen-Jan des Benoît Gob arbeitet an einer Installation aus 800 tränenförmigen Glasobjekten. Tränen, die von einem palästinensischen Glasbläser geschaffen wurden und für die Seelen von Kunstwerken stehen sollen, die „in die Irre gingen“. Immer wieder werden einzelne Tränen mit lautem Knall zerschlagen. Doch die präsentierten Künstler wie Artemisia Gentileschi, Goya, Louise Bourgeois, Rogier van der Weyden haben nicht geirrt, sondern in ihren Werken Themen wie Krieg, Schmerz, Tod vielfach verarbeitet. An ihnen wird immer wieder die Frage der Haltung von Kunst gegenüber der Wirklichkeit erörtert. Die Forderungen der #MeToo-Bewegung wiederum werden auf drastische Weise greifbar, wenn die Vergewaltigung von Artemisia Gentileschi durch ihren Lehrer Tassi im Jahr 1611 nachgespielt wird. Während Grace Ellen Barkey die Kamera hält, bedrängt ihr Sohn die Tänzerin Sarah Lutz derart brutal, dass sie nur noch verzweifelt den Abbruch der Szene fordern kann. „Nein heißt Nein“ hat in der Kunst eine andere Bedeutung.
Als Kontrapunkt und Bestätigung zugleich fungiert dagegen die Liebesgeschichte von Romy Lauwers und dem Tänzer Elik Niv, die sich angeblich in China begegnen. Er hat als Elitekiller der israelischen Armee Menschen getötet, bevor seine Beine zerschossen wurden und er zur Kunst konvertierte. Die beiden lieben sich nackt auf der Bühne, in aller behaupteten Unschuld, bis Elik Niv in einen die ganze Bühne erfassenden wilden Albtraum gerät – und die Eltern den neuen Lover einem peinlichen Verhör über Mord und Totschlag unterziehen. Die Liebe der Tochter ist ebenfalls bereits kontaminiert mit Gewalt. Dass Mutter Grace Ellen Barkey später mit dem Tänzer Yonier Camilo Mejia eine Affäre beginnt, weil Jan Lauwers gerade zu Gunsten der Kunst sublimiert, ist von schreiender Komik in ihrer Unbeholfenheit und Unsicherheit.
Doch es ist zum einen der Lauwersche Familien-Solipsismus, sei er nun selbstkritisch gemeint oder nicht, der den Abend schwer genießbar macht und die restlichen Kunstfamilien-Angehörigen im ästhetischen Halbschatten verdämmern lässt. Zum anderen geben sich viele Themen nur noch im Schnelldurchlauf die Klinke in die Hand: Kunst und Politik, Geschichte, Ikonoklasmus, das Verhältnis von Israel und Palästina, die Natur, Tiere und sogar die Religion. Sie dämmert als Andeutung zum Schluss in der Interpretation von van der Weydens „Kreuzabnahme“ herauf. Doch Lauwers rettet sich schnell in das raunende Lob der ästhetischen Meisterschaft seines flämischen Landsmanns. Passend zum dämmrigen Bühnenlicht hielt damit die Selbstmystifikation des Künstlers wieder Einzug – die Realität hatte sich da längst aus dem Staub gemacht.