Foto: Vater (Andreas Herrmann) und Sohn (Thomas Henniger von Wallersbrunn) in der Krolkiewicz-Uraufführung am Schlosstheater Celle © Jochen Quast
Text:Jens Fischer, am 15. Oktober 2012
Bekenntnisliteratur: Die Tirade nicht scheuend, auch autoaggressiv gestimmt, so muss am Lebensende einiges mal kopfwütend und herzenstraurig in die Welt hinausgeschrieen werden, abwechselnd in ratlos ungeschönter, dann wieder in Bedeutung behauptender, poetisieren wollender Sprache. Erinnerungsfetzen gilt es so zu arrangieren, damit irgendwie Sinn entsteht. „Ich erlöse dich vom Rätsel meines Lebens“, sagt der Vater zum Sohne, „damit dir Zeit bleibt für deine eigenen.“ Dieses Erlösungsritual ist ein mehrstimmig notierter Monolog, stilistisch taumelnd, gehetzt. Durchaus kathartisch gemeinte Offenbarungen sind zu hören – wie der Hass auf den Sohn, den der Vater eigentlich als Mädchen haben wollte, und dass sein Leben kein Wunschkonzert war. Zwischen Pflicht, Neigung und moralischem Anspruch scheiterte er als Wachsoldat und Republikflüchtlingsmörder an der Mauer der SED-Diktatur wie auch in der Ehe: ein Zusammenkommen, um sich „gemeinsam voreinander zu verstecken“. Es gibt rundumschlagende Gesellschaftskritik. Und wie die Thomas-Bernhard´schen Suadenkönige prahlt der Ich-Erzähler mit seiner Schopenhauer-Lektüre. Zuhören, schweigen, alles aufschreiben soll der Sohn. Mit Kreide versucht er in Notizenform auf dem Bühnenboden das Leben seines Vaters nachzuzeichnen. Zunehmend lustloser. Er möchte lieber abrechnen – oder wenigstens Fragen stellen, kommentieren, interpretieren. Braucht er aber gar nicht, Papa selbst – weil erblindet, schuldbeladen, schicksalsgläubig, sich gern in Geheimnisse kleidend – siedelt sein Existieren schon in der Nähe des Ödipus-Mythos an. Bis er endlich verstummt …
So ein Stück muss Mann einfach mal raushauen. Ralf-Günther Krolkiewicz tat es. Krolkiewicz? Der 2008 verstorbene Theatermann war Intendant am Potsdamer Hans-Otto-Theater (1997 – 2004), ausgebildeter Schauspieler, Dramaturg, Regisseur und auch Dramatiker. Er schrieb Blöcke aus Worten, die halt ausgesprochen werden müssen, um sich verflüchtigen zu können. Wobei es schön gewesen wäre, wenn Nico Dietrichs Uraufführung die verbale Schwere auch spielerisch weggewirbelt hätte – so wie die Darsteller die Kreidenotizen des Sohnes vom Bühnenboden trippeln, treten, tänzeln. Aber am Celler Schlosstheater kommt der Sprechtext nicht zum Funkeln, Lodern, Verglühen. Er hallt grantelnd durch die neue Turmbühne, ein vieleckig intimer Hörsaal. 40 Zuschauer sitzen im Kreis um das Bühnenpodest, auf dem zum Finale vier Birken zum Scheiterhaufen gestapelt liegen. So soll der Vater mit all seinen Geschichten weggeflammt werden, damit der Sohn nicht dessen Versäumnisse ausbaden muss, sondern was Eigenes auf die Beine stellen könnte. Also schnell dem Ausgang des Theaterraumes entgegenstrebt und resümiert: „Die Erinnerung verbrennt wie altes Laub im Herbst / viel Rauch und ein kleines Häufchen Asche / den der das Feuer macht / verbrennt es nicht / kalt steht er dabei und sieht gebannt in die Flammen“. Wobei die Asche immerhin Dünger für sein Leben abgeben könnte. Der Autor aber notierte im Vorwort: „Da ist die Hoffnung, dass ihm gelänge, was dem Vater versagt blieb: Die Flucht vor sich selbst.“
Unter Hochdruck fuhrwerkt Darsteller Andreas Herrmann all die Vater-Worte aus sich heraus. Während aus den Winkeln und Löchern der Bühne der Erinnerungen die zitierten Figuren wie Gespenster auftauchen, kurze Textpassagen übernehmen und wieder abtauchen. Dabei aber nie ein eigenes Format gewinnen, keine Chance auf ihre Wahrheit haben, da sie nur aus der Sicht des Ich-Erzählers zu erleben sind. Was gerade bei der Ehefrau/Mutter bedauerlich ist, über die der Vater vor allem verächtlich spricht, sie als Spieluhrpüppchen sieht, das dann auch vor den Zuschaueraugen lächelnd kreiselt, dann der eigenen Traumatisierung durchs Lesen von Liebeskitschheftchen zu entfliehen versucht, den Selbstmord aber nicht verhindern kann. Diese Lebensgeschichte ist ein Drama der Zwangsemigration. Im Viehwagen zog die Frau durch halb Europa, wurde mehrfach vergewaltigt. Und hatte ständig Angst, zu verhungern, zu erfrieren, in einem KZ zu landen. Wie kann Theater mit diesen unglücklich verworrenen, schmerzhaften Erlebnissen des Massenexodus von Millionen Deutschen aus Osteuropa nach dem 2. Weltkrieg umgehen? Wie mit dem daraus folgenden revisionistischen, volkstümelnden Denken? Ein Pulverfass – noch immer?
In seinem Text deutet Krolkiewicz an, dass historisch korrektes Erinnern funktioniert, wenn die Darstellung der Deutschen als Opfer nichts, gar nichts am Nationalsozialismus entschuldigt, der das Elend ausgelöst hat. Und der Autor macht deutlich, dass Verlust, Entwurzelung, Vertreibung und Neunanfang in der Fremde nicht das Erfahrungsfundament für Aussöhnung bietet. Das wäre eine spannende Geschichte gewesen. Die Regie befeuert vor allem den Vater-Sohn-Kampf – für „ein kleines Häufchen Asche“.