Jochen Kupfer, Jens Waldig und der Chor des Staatstheater Nürnberg

Arme Leut' - und zwar von heut'!

Alban Berg: Wozzeck

Theater:Staatstheater Nürnberg, Premiere:18.02.2017Autor(in) der Vorlage:Georg BüchnerRegie:Georg SchmiedleitnerMusikalische Leitung:Gábor Káli

So kann man den Begriff „atonal“ also auch deuten! In Georg Schmiedleitners Nürnberger Inszenierung von Alban Bergs immer noch überwältigend moderner Oper „Wozzeck“ hat der Komponist eine komplette Szene lang Berufsverbot, ehe das erste akustische Signal erlaubt wird. Während das Orchester im Dunkel versinkt, öffnet sich die Szene für ein lebendes Alltags-Bild im geblitzten Stillstand, das der Zuschauer bei absoluter, durchaus quälender Ruhe betrachten darf. Was er sieht, ist der Orientierungs-Hinweis auf den Zeitsprung der folgenden Handlung, der hier nicht zurück zu Georg Büchners Original führt, sondern in etwa gleichem Ausmaß in die andere Richtung nach vorne zur Gegenwart des Regietheaters mit Smartphones und  Shoppingtüten weist. Erst danach, die stumme Referenz-Fixierung wird mit Blackout ausgeblendet (es gibt ironischen Beifall, aber man hat verstanden), die Musiker kriegen ihr Licht zurück, bekommt das Schicksal freie Bahn für „Wir arme Leut’“, und zwar von heut‘.

Der Regisseur und sein Bühnenbildner Stefan Brandtmayr zeigen deren Existenz eingefasst von eckig genormten Lebensraum-Containern, die in wechselnden Konstellationen zu stilisierten Reihenhaus-Fluchtpunkten des asozialen Wohnungsbaus gehoben und geschoben werden. Der haltlose  Wozzeck, der hier eher Bürovorsteher-Assistent mit Asperger Syndrom als ein tumber Soldat sein könnte, ist vom Blick in den Abgrund längst gezeichnet. Mit fragwürdigen Mini-Jobs sorgt er widerwillig aber pflichtbewusst für seine längst nicht mehr treue Braut Marie und ihr gemeinsames, mit den Insignien der Unterhaltungsindustrie gut ausgestattetes Kind. „Arm“ ist er wohl nicht im finanziellen Sinn, aber „gehetzt“ von den unerfüllbaren Ansprüchen, die ihn überfordern. Seine Frau, sein Kind, die ganze Grimassen-Gesellschaft, alle machen ihn zum Versager, der in der „Lust, sich aufzuhängen“ einen sehr speziellen Hoffnungsschimmer sieht. Die Autorität der Uniformen, im Original der Zerrspiegel desolater Ordnung, hat buchstäblich ausgedient. Jetzt beherrschen zivile Tyrannen den Alltag. Der mit runtergelassener Hose angetretene „Hauptmann“ muss nicht rasiert sondern im Escort-Service ausgepeitscht werden, statt Test beim Militär-Mediziner  ist nun Uni-Massenstudie für Kalorienschlucker. Und der „Tambourmajor“, der die sehnsüchtige Marie mit der verlogenen Verheißung vom besseren Leben verführt, hält wenig von Soldaten-Lametta, wenn es doch im Boutiquen-Style auch ganz in Gold geht. Wie zum Hohn fährt dazu die bühnenfüllend breite Leuchtschrift „GLÜCK“ rosarot ins Gemüts-Dunkel. Für den armen Wozzeck („Er schreit nach Innen und schweigt nach Außen“, schreibt der Regisseur im Programmheft prägnanter als er es darstellen kann) zerbricht der letzte Rest des Fundaments, auf dem er sich nicht mehr aufrichten, aber zumindest noch abstützen konnte. Der blutige Mord  ist hilflose Revolution gegen die fatale Weltordnung.

Es ist eine Inszenierung, die an ihrer Vergegenwärtigung-Absicht nicht rütteln lässt. Szene für Szene blättert die Aufführung weitere Variationen der Trostlosigkeit auf, versagt sich – wenn der Wozzeck seine Marie ersticht – sogar den poetischen Schwenk zum roten Mond über dem See. Zitiert wird Natur nur als bedrohliche Gewitterwolke hinter der Häuserkulisse. Am Ende, wo das Waisenkind sein „Hop-Hop“ gegen das unbeherrschbare Unheil ansingt, mögen manche Zuschauer die Rückkehr zur erstarrten Stille  erwartet haben. Schmiedleitner misstraut solch offener Deutung und lässt den Kinderchor die eben zusammengebrochene Erwachsenen-Welt einfach weiterspielen, die nächste Generation in den ewigen Kreislauf einbiegen als wäre nichts gewesen. Pessimistischer geht es gar nicht. Nur die Idee, Wozzeck und Marie im Tode vereint auferstehen und für die Ewigkeit auf dem Ikea-Sofa Platz nehmen zu lassen, hält dagegen. Kitsch als Ausweg.

Das Debüt von Jochen Kupfer in der Titelpartie des Anti-Helden ist musikalisch auf Anhieb ein Meisterstück. Der Sänger erfühlt und erfüllt die vokalen Schwünge und Brüche traumhaft, spiegelt die stilisierte Künstlichkeit auf kluger Sprach-Energie (in gut sortierten Haushalten vergleicht man anschließend gerne mit dem Griff nach Dietrich Fischer-Dieskau) und bietet unwiderstehliches  Hörbild. Als Darsteller kann er sich dem Autisten mit aus der Hose hängendem Hemdzipfel, den die Regie anordnete, nur diskret annähern. Die hochdramatisch flackernde Katrin Adel gibt der Marie etwas zu wenig von ihrer irrationalen Sehnsucht, die Tenöre Hans Kittelmann und Tilmann Unger schmettern als Hauptmann und Major auch entmilitarisiert angemessen aggressiv.  Den Jeans-Boy Andres mit dem angewachsenen Kopfhörer lässt Ilker Arcayürek noch im heftigsten Dissonanzen-Tumult entspannenden Disco-Sound finden. Wozzecks junger Freund hat es gut, er kann das Glück einstöpseln.

Dank Gábor Káli am Pult der Staatsphilharmonie stellt sich die Frage, ob Alban Berg dem radikalen Bilderwechsel widerspricht, überhaupt nicht. Der Dirigent durchleuchtet die hochkomplexe und weit über allen Dekorations-Handgriffen schwebende Partitur mit denkbar größter Selbstverständlichkeit, umspielt die stabile Szene wunderbar mit zauberischer Transparenz und bleibt allenfalls etwas von der gleißenden, beißenden Schärfe des Klangs schuldig. Die Travestie der Volksmusik knattert in  abgemildeter Querschlagkraft dazwischen, die Doppelung der szenischen Deutlichkeiten ist Kális Sache nicht. Dass der mutwillige Bildersturm so souverän aufgefangen, verarbeitet und schließlich mit einhelligem Beifall quittiert wurde, geht mit großem Anteil aufs Orchester-Konto.