Heiter ist die Kunst, ernst ist das Künstlerleben: Szene aus Lorenzo Fioronis "Ariadne"-Inszenierung mit Anna Peshes (Der Komponist) und Sharleen Joynt (Zerbinetta).

Ariadne im Spiegelkabinett

Richard Strauss: Ariadne auf Naxos

Theater:Theater Heidelberg, Premiere:19.05.2012Regie:Lorenzo FioroniMusikalische Leitung:Cornelius Meister

Die „Ariadne auf Naxos“ des deutsch-österreichischen Opern-Dreamteams Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal ist nicht einfach eine Oper – sie ist vor allem eine Oper über die Oper. Das Vorspiel im Hause eines reichen Wiener Herrn im 17. Jahrhundert handelt in einer ziemlich raffinierten Mischung aus Ernst und Ironie von den Sitten und Unsitten der Leute vom Theater. Quasi als Probe aufs Exempel mündet es in die Aufführung der Oper über den Stoff aus mythischer Vorzeit. Und genau an dieser Selbstbespiegelung der Oper entzündet sich die Inszenierungsidee Lorenzo Fioronis am Theater Heidelberg. Er spiegelt sozusagen den Spiegeleffekt ein weiteres Mal.

Das „realistische“ Vorspiel um die Backstage-Turbulenzen im Palais zeigt er als Commedia dell’arte von ausgestellter Künstlichkeit. Ralf Käselau hat dafür ein nostalgisches Theaterportal ins Heidelberger Opernzelt gezirkelt und darunter eine Gassenbühne mit Gittertor, Gartenkulissen und der Fassade des herrschaftlichen Palais; all das hübsch hingemalt nach guter alter Adventskalender Sitte (ein paar Türchen für die Damen und Herren in den Proszeniumslogen gibt’s auch). Und Sabine Blickenstorfer hat für verspielte Kostüme gesorgt, die die stilhistorischen Anspielungen bunt durcheinander purzeln lassen. In diesem Theaterbilderbuchland geht es munter drunter und drüber: Die Commedia-Clowns gondeln im Oldtimer durch die Kulisse, Zerbinetta fährt in einer Luxuskarosse vor und empfängt dort ihren Offizier, was das Gefährt in eindeutig zweideutiger Weise zum Schaukeln bringt. Der Komponist hektisiert, der Musiklehrer taktiert, der Haushofmeister dekretiert, der Tenor posiert, die Diva intrigiert – und am Ende, als alle sich dem Dekret des Hausherrn gebeugt haben und die gleichzeitige Aufführung der Posse „Die ungetreue Zerbinetta und ihre vier Liebhaber“ und der tragischen Ariadne-Oper unmittelbar bevorsteht – da bricht erst mit einer Meldung von der Mobilmachung, sodann mit Blitz und Donner der erste Weltkrieg herein. Rauchschwaden wabern, ein Panzer fährt auf, das Palais fliegt mit Krawumm in die Luft. So verlangt die zeitgenössische Realität gegenüber der Kunst ihr Recht – und in der Tat hat es Strauss ja fertig gebracht, gleich zwei Weltkriege in seinen Kunstwelten zu ignorieren.

Die antike Kunstwelt der Ariadne-Oper aber verlegt Fioroni erneut genau spiegelverkehrt in die realistische Tristesse eines Backstage-Szenarios nach der Aufführung: grob verspachtelte Rigipswände, Türen, Schminktische, Requisiten und Kostüme der vorangegangen Aufführung; die Nymphen, die als gerüschte Rokoko-Damen den Gassenbühnen-Garten bevölkert hatten, schminken sich ab; Zerbinetta und ihr Verehrer-Quartett tauchen in Alltags-Zivil auf. Nur die Primadonna verharrt in tiefer Depression und kann sich so wenig aus ihrer Rolle lösen, dass sie fortwährend das Bühnenbild mit Kreppband nachklebt. Harlekin, Brighella, Scaramuccio, Truffaldin und auch Zerbinetta tun ihr Bestes, die Untröstliche aufzuheitern – vergeblich. Doch dann schneit ein Tenor in den Garderobentrakt und will eine neue Partie proben: Ariadne ist entflammt, flirtet, sieht in ihm den Todesboten – und macht mit dem Messer blutigen Ernst mit ihrer fixen Todesidee. Doch genau in dem Moment, als man über soviel blutigen Realismus den Kopfschütteln will, wenden sich alle Beteiligten mit gestrecktem Zeigefinger an die Zuschauer: War doch alles bloß Theater, und wir hoffen, ihr habt auch schön mitgelitten!

Diese doppelte Volte aus Realitätseinbruch im Künstlichen und Kunsteingeständnis im Realistischen – die ist schon ganz schön raffiniert und zweifellos auch intelligent. Allerdings ist auch das, was Strauss und Hofmannsthal über das Verhältnis von Kunst und Leben, Komödie und Tragödie, Ideal und Alltagsbanalität in dieses Werk hineinprakizitiert haben, nicht von gestern. Und davon lässt Fioroni nun doch eine Menge liegen. Die versteckte Kunstphilosophie des Vorspiels wird glatt im Klamauk versenkt. Dafür funktioniert die After-Show-Tristesse, die Fioroni der eigentlichen Oper überstülpt, erstaunlich gut. Das Spiel der kommentierenden Nymphen, die eifersüchtigen Rangeleien der vier Verehrer Zerbinettas, all das ist genau ausgearbeitet und durch eine messerscharf gezeichnete Personenführung beglaubigt. Aber als diese Eifersüchteleien in Zerbinettas Fast-Vergewaltigung ausarten, ist Fioroni meilenweit weg von der Musik. Hier spürt man schmerzhaft, wie sehr er das Widerspiel von Tragödien- und Komödienelementen nivelliert, um alles gleichermaßen realistisch ernstnehmen zu können. Das Auftauchen das Bacchus bleibt ein unmotivierter Zufall, man weiß lange nicht, was, wenn schon keinen Gott, der elegante Typ eigentlich darstellen soll. Warum Ariadne, von ihm neu bezirzt, ausgerechnet jetzt zum Messer greift, bleibt auch etwas unklar; aber möglicherweise sieht sie in dem Herrn in Schwarz ja einen vorzeitig zur Stelle gebetenen Leichenbestatter. Natürlich: Solche Fragen nach der realistischen Plausibilität werden durch das finale Kunsteingeständnis eigentlich zurückgewiesen, nach dem Motto: Hey Leute, auch hier ist alles Oper und das Leid nur Anlass für Euer Mitleid! Aber das ist eine sehr spekulative, fast insiderhafte Pointe. Fioroni gibt eine ganze Menge von dem preis, was Strauss und Hofmannsthal ihm anbieten. Die Bilanz von Regieeinfalls-Gewinnen und Überformungs-Verlusten ist am Ende bestenfalls ausgeglichen.

Musikalisch ist dieser Abend wieder einmal ein Heidelberger Wunder der Provinz. Und auch wenn die Qualitäten des GMDs Cornelius Meister, der sich mit dieser Premiere von Heidelberg verabschiedet, längst keine Überraschung mehr sind, bleiben sie außergewöhnlich. Meister dirigiert einen sehr vitalen Strauss, zügig in den Tempi, federnd im Rhythmus, plastisch in der Phrasierung, kammermusikalisch klar in der Linienführung, und er erreicht durch eine bewegte, aber nie verschwiemelte Agogik einen großen Reichtum der musikalischen Gestalten. Das Uneigentlich-Gebrochene freilich ist Meisters Sache nicht – hier ist alles pralles Operneben. Gleichwohl bringt er seine Sänger kaum einmal in Not, im Gegenteil: Jederzeit ist spürbar, wie genau er sie führt und wie einfühlsam er deren Stärken und Nöte im Blick hat.

Und diese Sänger sind eine kleine Sensation. Welches Haus dieser Größe könnte wohl sonst eine Zerbinetta aus dem eigenen Ensemble so besetzen? Sharleen Joynt singt diese Horrorpartie mit quecksilbrig funkelndem, aber nie dünnem, sondern stets tragendem Sopran. Sie trifft die Spitzentöne mit atemberaubender Genauigkeit und manövriert sich mit Kunst und Können durch alle Klippen. Man merkt, dass sie das nicht aus dem Ärmel schüttelt, sondern „gebaut“ hat, und doch versprüht sie vokale Brillanz und darstellerischen Charme, dass es die reine Freude ist. Und dann die Ariadne der Yannick-Muriel Noah (eine Art fester Gast in Heidelberg): Ihr Sopran blüht aus einem bronzesatten Fundament hell leuchtend auf, er ist wunderbar farbenreich bis hinab zu dunklen Brusttönen, wird tadellos geführt und hat Substanz im Piano wie im gleißenden Forte.

Natürlich geht es auch hier nicht ganz ohne Kompromisse ab. Die Tenorgemeinheiten, die Strauss in seine Partituren zu notieren pflegte, sind sprichwörtlich – deren Kollateralschäden sind in der Auslegung der Bacchus-Partie durch den Tenor Ta’u Pupu’a (eine imposante Erscheinung mit Athletenstatur, in der Tat war er früher mal Football-Spieler) zu besichtigen: Pupu’a erfüllt seine Partie mit großer Präsenz, aber auch mit Kraftaufwand. Das ist weder dem Timbre noch der Intonation zuträglich; und die Leichtigkeit der Attacke, die Strauss diesem jungen Gott abverlangt, ist seine Sache gleich gar nicht. Auch Anna Peshes kann als Komponist mit vokaler Durchschlags- und Gestaltungskraft aufwarten, aber auch ihr liegt die Partie weder in der Höhe noch vom Charakter ihrer Stimme her, so dass sie immer wieder grell forciert. Dafür sind dann kleinere Partien wieder überraschend gut besetzt: Angus Wood als Tanzmeister von schönster Tenoreleganz beispielsweise; James Homanns so markanter wie kultivierter Musiklehrer; Haris Andrianos, Winfrid Mikus, Wilfried Staber und Sanghoon Lee bilden ein Komödianten-Quartett von ausgeglichener Präsenz und ausgeprägter Spielfreude. Und nach einer gewissen Einschwingphase fanden auch die Nymphen Ulrike Machill und Carolyn Frank zur naturlauthaften Entspanntheit, gekrönt vom hübschen Echo der Annika Sophie Ritlewski.

Auch Heidelbergs Publikum übrigens ist wunderbar: Panzer vorm Palais, Zerbinettas beinahe-Vergewaltigung, Ariadnes Beinahe-Verwandlung im Blutbad: solche Regiepetitessen bringen hier schon lange keinen mehr aus der Fassung. Der Beifall war rauschend, Ovationen für Sharleen Joynts Zerbinetta, Abschiedsjubel für Cornelius Meister – und Abschied auch vom Theaterzelt. Im November will das Theater Heidelberg sein frisch renoviertes Haus wieder beziehen. Und dann wird alles noch schöner. Allerdings: Dass das Widerspiel von Realität und Kunst pünktlich zum Kriegsausbruch durch ein über dem Zelt tobendes Gewitter um eine ganz neue Dimension bereichert wird – eine solche bei der Premiere erlebte Pointe von Gnaden einer höheren Regie wird es in Zukunft nicht mehr geben.