Foto: Szene aus "Abendland" © Falk Wenzel
Text:Tobias Prüwer, am 27. Januar 2017
Ex Okzidente Luchs? Ein Hund ist es, dem im Puppentheater Halle ein Licht aufgeht. Er ist ein Meister, so weiß er. Denn er wurde von Menschenhand gezähmt. Als die Expedition, die er durch die Eiswüste schleppt, gen Abgrund schlittert, macht er sich eine Pinguinherde Untertan. Ist er als domestizierte Herrenrasse doch gemacht zum Wildtieranführer. „Wau, wau!“
Der entfesselte Kettenhund wird am Puppentheater Halle zum Symbol für das „Abendland“. Intendant Christoph Werner wirft eine Expedition ans Ende der Welt, um dort eben deren Nabel zu suchen. Stück und Inszenierung stammen aus Werners Hand, der in der Erzählung dreier Forschungsreisender massig Referenzen an Mythos und Kultus des Abendlands und deren real-historischen Ausformungen verpackt. Zwischen stiller Andacht und erzeugtem Tierleid, Sektionsrampe und Wissenschaftszitat, Marschchorkörper und romantischem Kunstlied bedient sich die dichte Inszenierung vieler Mittel, um von Überlegen(-heit) und Überleben, dem Andere draußen im Fremden und drinnen im Eigenen, Aufbruch und Untergang zu künden.
Weit spannt sich der Saal im Puschkinhaus – wo einst das Thalia Theater seine Residenz hatte. Von der Decke mit spätklassizistisch anmutendem Dekor hängt ein viellichtiger Rundleuchter herab. Der große Saal ist komplett weiß ausgeschlagen. Leer ist der Bühnenraum zu Füßen einer Zuschauertribüne und zwei darangesetzten Stuhlreihen. Am Rand ruhen die in Pelz gekleideten Gliederpuppen, ein Hundekopf, drei Schnabelmasken. Nachdem das Publikum unter einem Klangteppich historischer O-Töne, die von Hitler bis Obama das Spektrum des Abendlandverständnis umreißen, Platz genommen hat, gehen die sieben Spielenden in Position. Unterm akustisch schneidenden Wind suchen drei Forscher nach ihrer Verewigung im ewigen Eis, indem sie die Erstentdecker des Pols werden. Als Kraftquelle zieht ein Hund ihr Zelt durchs kantige Bühnenrund. Viel mehr Requisiten tauchen nicht auf; für die Kältelandschaft reicht weiße Leere. In Schwarz und mit Stahlkappenschuhen tauchen hin und wieder drei Pinguine auf.
Die drei Menschen-Gliederpuppen werden von ebenso in Pelz gehüllten Spielern geführt. Sehr liebevoll sieht sich das an, wenn die Spieler die Puppen an ihren Körpern wärmen. Bewusst wird das Double aus Spieler und Figur nie ganz aufgelöst. Man kann das als Anspielung auf den Körper-Geist-Dualismus deuten, der die westliche Philosophie seit 400 Jahren beherrscht. Auch dass die Menschen von Puppen, die Tiere von Menschen mit Maske gegeben werden, ist eine geschickte Setzung: Die Mensch-Tier-Differenz ist für das „abendländisch“ Denken wesentlich. Unter kunstfertigem Spiel entwickelt sich so die kleine Geschichte der Polexpedition, die vor allem aus Leiden an Kälte und Strapazen besteht. Symbolisch aufgeladen ist schon diese Handlungsebene, in der mit der Standarte à la Kreuzzug voran das Heroische von Expansion und Eroberung gelobt wird. In Träumen und Halluzinationen wird das durch viele Aspekte der Abendlandgeschichte angereichert.
Klar, dass Abendland ist Sehnsucht- und Kampfbegriff. Bis heute, wo „Patriotische Europäer“ in Dresden und sonst wo für die Rettung des Okzidents auflaufen, funktioniert das Wort als Abgrenzungsmetapher. Ursprünglich bezeichnete es nur jene westlichen Lande der bekannten Welt, die der untergehenden Sonne am nächsten liegen – im Gegensatz zum Nahen Osten, dem Morgenland. Von der geografischen Ordnungsvorstellung wurde das Abendland zum Kampfbegriff. Es soll irgendwie die antike Philosophie mit dem Christentum verschmelzen und damit einen über die Zeiten hinweg homogenen europäischen Kulturraum behaupten. Als Konzept gegen die Angriffe der Türken diente es und wird weiterhin gezielt gegen Muslime eingesetzt; auch Juden waren lange außen vor. Bei Autoren wie Oswald Spengler („Untergang des Abendlandes“) gerinnt es zur Beschreibung eines ursprünglichen Europas, das Kapitalismus und Kommunismus bedrohen. So geriert sich auch Adolf Hitler als Verteidiger des Abendlandes. Noch in Zeiten des Kalten Krieges wird es dann inklusive USA als Wertegemeinschaft, die vorm Ostblock zu verteidigen sei, gebraucht. Das alles und noch viel mehr, lässt Werner in seine leise Inszenierung eintröpfeln, aber klug, nie belehrend. Das Christentum als vermeintliche Wiege der Kultur klingt in Gebeten und Geboten an, während die Pinguine für den Hund die zu kolonialisierenden Barbaren sind, muss sich Doktorin Stein gegen misogyne Abwertung wie anzügliche Anbetung der Herrenwelt erwehren. Die Pinguine wiederum werden für einen Reisenden in Wahnzuständen zu Grenzwächtern und -wärtern. Sie erinnern zuerst an Frontex-Personal, das den Forscher-Immigranten nicht zum Pol lassen will. In einem bitteren Moment schicken sie ihn bis aufs nackte Überleben entkleidet durch ein Tor, die KZ-Parallele ist überdeutlich.
Und doch gelingt es den Spielern trotz aller Existenzbefragungen, keine Schwere, keinen Pathos, keine Bedeutungsschwangerschaft aufkommen zu lassen. Physisches Spiel und intelligenter Inhalt gehen hier eine wunderbare Symbiose aus Sinnlichkeit und Esprit ein. Die Szenen sind nicht nur Illustration wie in Werners „1913“, mit dem er sich in der vergangenen Spielzeit bereits dem Abendland gewidmet hatte. Im Gegenteil: Das Figuren- und Darstellendenspiel ist wesentlich. Es ist das Skelett, das auf sehenswerte Weise mit der Aporie des Abendlands ausgestaltet wird.