Foto: Bernhard Glose, Albert Bork, Dagmar Geppert © Franziska Götzen
Text:Martina Jacobi, am 2. März 2024
Roberto Ciulli widmet nach „Ich, Antonin Artaud – Le Mômo“ einen zweiten Abend dem französischen Dramatiker und Begründer des „Theaters der Grausamkeit“. Eingebettet in „Rausch 3“ gelingt am Theater an der Ruhr ein großartiger Abend.
Ein wilder Harlekin (Bernhard Glose) mit verfilzten Haaren aber ohne Clownskostüm entlarvt die Zivilisierten als die eigentlichen Possenreisser. Dafür findet Regisseur Roberto Ciulli in seiner Inszenierung klare Bilder. Wir sehen Antonin Artaud, wie er in einem Rausch selbst zur Figur Harlekin in einem Stück des frühen 18. Jahrhunderts wird. Mit in diese Reise fallen seine Erlebnisse von Besuchen bei den Tarahumaras in Mexiko in den 1930er Jahren. Als Grundlage für das Commedia dell’arte Stück „Der wilde Harlekin“, uraufgeführt in der Pariser Comédie Italiens 1721, gelten ebenso die 1704 erschienen „Dialoge des Baron de Lahontan mit einem Wilden in Amerika“.
Unter einer Plastikplane liegen mehrere Körper, werden zuckend mit Lichtschocks zum Leben erweckt. Also beginnt die Geschichte, im Stil von Antonin Artauds „Theater der Grausamkeit“ – weg vom „heiligen Theatertext“, um eine Sprache „zwischen Gebärde und Denken wiederzufinden“, wie der Dramatiker schrieb. Die Schocks wiederholen sich öfter an diesem Abend, das Publikum unterzieht sich quasi einer Artaud-Therapie, der selbst einst eine solche unmenschliche Behandlung wegen seines lebenslangen Nervenleidens erleiden musste.
Die Artaud-Therapie
In einer Art Guckschaukasten aus Stoff, der während des Abends flexibel verschoben und geformt wird, versammelt sich das Ensemble wie in einem Gemälde. Alle Figuren in aufwändigen Barockkostümen (Bühne & Kostüm: Elisabeth Strauß), gepudert, vor und in der Sänfte posierend. Dann wieder ein Schock, die Perfektion ist von vornherein dahin.
Joshua Zilinske, Albert Bork, Dagmar Geppert, Marie Schulte-Werning, Fabio Menéndez, Steffen Reuber © Franziska Götzen
Mario (Joshua Zilinske) und Lelio (Fabio Menéndez) begegnen sich im possierlichen Höflichkeitstanz, tauschen Benimmmanieren wie gleichzeitig in rivalisierendem Umkreisen und Balztanz. Das höfliche Lachen ist eine Spur zu laut, zu künstlich, schon wahnsinnig? Flaminia (Dagmar Geppert) und Pantalone (Albert Bork), denen laufend Violetta (Maria Schulte-Werning) die Perücken pudert, treffen auf den Harlekin, der keine gesellschaftlichen Regeln kennt. Die Vernunft regelt das Zusammenleben und gute Menschsein. Ergo schlussfolgert der Harlekin: Wenn Menschen Vernunft brauchen, um gut zu sein, werden sie dann erst bösartig geboren?
Dekonstruktion im Rausch
Das alles, dieser barocke Firlefanz ist auf der Bühne so wahnsinnig und wirksam umständlich dargestellt. Da möchten die Gefühle schon beim Zusehen herausbrechen, von den Darstellenden passiert das hier manchmal schreiend oder auch auf Italienisch fluchend. Die Sänfte wird zum goldenen Käfig, der vornehme Gehstock des Pantalone führt ihn plötzlich selbst an der Nase herum, lässt ihn straucheln und schwanken, gibt keinen Halt mehr. Genau mit diesem Stock performt auch der Harlekin, verbiegt und verrenkt sich mit diesem steifen Ding, zeigt dadurch den Willen zu Freiheit vom gesellschaftlichen Korsett.
Was Roberto Ciulli und das Ensemble so stark auf die Bühne bringen, funktioniert allein durch die Bildsprache. Der Harlekin spiegelt den durch Gesetzte und Normen steifen Figuren die Seele: Herz und Verstand müssen nicht gegensätzlich, können sich einig sein. Dass am Ende einiges schon szenisch dargestelltes noch einmal verbal wiederholt wird, wirkt dann fast schon belehrend. Und dann, nach der Dekonstruktion der gesellschaftlichen Vorstellung von Menschlichkeit und Freiheit, erwachen wir wieder aus dem Rausch: das Stück ist zu Ende, aber die Bühne verdunkelt sich nicht, das Licht wird wieder angeknipst.