Foto: Grand Hotel? oder Cabaret Voltaire?. Das Ensemble tanzt in "Menschen im Hotel" am Rheinischen Landestheater © Björn Hickmann / Stage Picture
Text:Andreas Falentin, am 25. November 2018
Vicki Baums Welterfolg „Menschen im Hotel“ auf angenehm unkonventionelle Weise auf der Bühne des Rheinischen Landestheaters
Richtig spannend wird es im letzten Drittel. Da hat die junge Regisseurin Marlene Anna Schäfer ihre Figuren durch die Handlung so miteinander verbunden, dass sie sie als homogene Reisegruppe durch die Erlebniswelt von „Menschen im Hotel“ tauchen lassen kann. Da fließen dann die Vielstimmigkeit der Romanform und die starke Atmosphäre des nächtlichen „Tanzes auf dem Vulkan“ ineinander zu anspruchsvollem, hochmusikalischem Wohlfühltheater. Das wird durch den Tod des Barons von Gaigern, einer Mischung aus Selbstmord und Totschlag im Affekt, abrupt beendet. Jeder ist wieder für sich, die Gruppeneuphorie gerinnt zum Stimmengewirr.
So hatte es auch begonnen, knapp 2 ½ Stunden zuvor, mit Stimmengewirr. Eine Überraschung war die Optik. Spielt „Menschen im Hotel“ bei Vicki Baum doch in den 20er-Jahren in einem Berliner Luxushotel. Fünf Menschen, zum Hoteldieb herabgesunkener Adliger, gealterte Ballettdiva, am geschäftlichen Abgrund balancierender Generaldirektor, lebenshungrige Sekretärin und todkranker Buchhalter begegnen sich dort auf verschiedensten Wegen, in Lobby und Bar, Schlafzimmer und Konferenzraum. Ein Traumschiff auf dem Trockenen, in dem sich nach und nach die Episodenstruktur zur Handlung verquirlt, eine klug gebaute Schmonzette in naseweisem Neue-Sachlichkeits-Ton. In Neuss nun sieht man davon konkret fast nichts. Die dunkel glänzende Bühne ist mit Kugellampen, einem sich drehenden, leuchtenden Werbeemblem und einer im Hintergrund, über ein paar Treppenstufen aufgehängten, kreisrunden Scheibe ausgestattet. Sonst keine Gegenständlichkeit, nirgends, nicht einmal ein Rezeptionstresen. Hauptvermittler der Exposition sind die Kostüme, für die, wie für das Bühnenbild, Marina Stefan verantwortlich zeichnet. Sie lassen durchaus an die 20er denken, aber nicht an die oberen Zehntausend, sondern an das Cabaret Voltaire in Zürich, den Urgrund des Dadaismus. Es herrscht keine konforme Repräsentativität, sondern individuelle Ausdruckslust. Der Baron von Gaigern etwa trägt zur dunklen Hose einen blau-weiße Ringelpulli und einen weißen Hut. Ein bisschen „Traumschiff“, ein bisschen „Dreigroschenoper“, vor allem aber jung und cool. Dr. Otternschlag, der Arzt mit dem im Krieg zerfetzten Gesicht, der immer in der Lobby sitzt und behauptet, dass eigentlich nie etwas passiert, hat kein vom Maskenbildner kunstvoll behandeltes Gesicht. Dafür ist sein kahler Kopf blutrot angemalt und sein Oberkörper komplett schwarz, mit einer kanalartigen Aussparung am Rücken, als wäre er von einer Explosion dauerhaft versengt worden. Und Direktor Preysing kommt ganz in Gold daher, mit schwarzen Rüschen und blondem Zopf, ein Muttersöhnchen mit geheirateter Position, für deren Erhaltung er immerhin Eleganz, Wendigkeit und – Geschmack in die Wagschale zu werfen hat.
So entstehen neue Figuren nach Vorbildern des Romanes, unterstützt durch drei fantastische Musiker – Harfe, Violine und alles Mögliche – im Hintergrund, verstärkt durch hervorragend gesungene Lieder. Die sind, wie die komplette Musik des Abends, von Henning Brand, swingen mitreißend und nehmen stets Bezug auf die Entstehungszeit und die szenischen Vorgänge. In diesem Umfeld erzählt Marlene Anna Schäfer angenehm ungleichmäßig, handelt die Verhandlungen des Generaldirektors sachlich ab, lässt den Buchhalter (uneitel: Stefan Schleue) klug in seiner verbitterten Kleinbürgerlichkeit und bläst ihn nicht zum Sympathieträger auf. Die entflammende Begegnung zwischen dem Baron und der Tänzerin erzählt sie dann aber ganz differenziert, mit Liebe zu jedem Detail. Katharina Dalichau und Hubertus Brandt gestalten die eigene Einsamkeit, das gefühlte Festhängen in einer ausweglosen Existenz – die Tänzerin kann nicht mehr tanzen, den Dieb ekelt das Stehlen – und das routinierte sich-selbst-Belügen bewegend, ohne ins Sentimentale abzudriften. Und öffnen sich glaubhaft dem anderen.
So gerät Vicki Baums Grand Hotel in Neuss wirklich zur Lebensmetapher und offenbart doch jede Menge Zeitbezüge. Wenn Dr. Otternschlag (Jan Kämmerer, schön eckig), der Generaldirektor (Peter Waros, wunderbar geschmeidig) und der Baron sich in kurzem Plausch geradezu atemberaubend zwanglos zur Gertrude Steins „Verlorener Generation“ zusammenfinden oder wenn Teresa Zschernig als asymmetrisch wie eine Praline in Goldfolie verpackte Sekretärin sehr nüchtern zeigt, wie wenig die Welt seinerzeit ambitionierten, kommunikationsstarken Frauen offenstand.
Wenn man also Vicki Baums „Menschen im Hotel“ unbedingt auf die Bühne bringen muss, soll man es gerne machen wie jetzt in Neuss.