Foto: Das Ensemble bestaunt eine Reihe von Unterlagen, die vor seinen Augen zu Boden fällt. © Christina Iberl
Text:Roland H. Dippel, am 28. September 2024
Das Staatstheater Meiningen bringt Anna Gmeyners Stück „Ende einer Verhandlung“ zur Uraufführung. Darin konfrontiert es sein Publikum mit dem Tathergang und der Schuldfrage eines Femizids.
„Femizid“ steht als Konzeptkern über dieser posthumen Uraufführung. Es gibt keine Hinweise, ob der in englischer Sprache verfasste Dreiakter „Ende einer Verhandlung (End of a Trial)“ siebzig, achtzig oder fünfundachtzig Jahre alt ist. Die Autorin, Drehbuchautorin und Romancière Anna Gmeyner (1902 bis 1991) und deren ziemlich abgefahrene Dramentitel wie „Automatenbüffet“ (1931) und „Welt überfüllt“ (1932, posthume Uraufführung Oberhausen 2022) werden derzeit wiederentdeckt. Der originale Stücktext erschien nur wenige Wochen vor der Meininger Premiere in der Übersetzung von Amanda Lasker-Berlin beim Verlag der Autoren.
Gmeyners intensive literarisch-cineastisch-theatrale Auseinandersetzungen mit den ästhetischen Umbrüchen von der Jahrhundertwende bis zur Exilliteratur merkt man ihrem Stück an. Dessen Handlungskern ist das Geschlechterkampf-Motiv in einer seit „Carmen“ gängigen Aufstellung: Die Frau flirtet und flaniert über den Beziehungsrand hinaus, der Mann frustriert deshalb und bringt sie um. Oder doch nicht? Gmeyners Text und Aufbau sind intelligent konstruiert, pointensicher und detektivisch, aber auch mysteriös.
Psychologische Tiefe
Die Fragen nach dem Tathergang, dessen Motiv und der Schuld behandelt Gmeyner aus der Perspektive von zwölf Geschworenen. Diese müssen entscheiden, ob der Tod einer erotisch selbstbestimmten Frau durch den deshalb abwrackenden Ehemann Mord, Totschlag oder ein zufälliges Missgeschick war. Gmeyner verunklart den Hergang vieldeutig. Einerseits ergreift der Geschworene Mr. Smith Partei für den nicht auftretenden Angeklagten, weil er selbst dreißig Jahre früher ebenfalls in Haft kam. Den Tod seiner Frau stellt er als Zufall dar. Deshalb plädiert Smith als einziger für „nicht schuldig“ und verzögert dadurch die einstimmige Urteilsfindung. Der Angeklagte bringt sich indes um und gesteht mit trotziger Wut den Mord an seiner Frau. In einer phantastischen langen Rückblende spult das Ehedrama Smiths im letzten Akt ab. In dieser liefern Matthis Heinrich und Leonard Pfeiffer ein Musterstück aufbrechender Männerrivalität.
Gmeyner setzte ein dichtes Netz von Symbolanalogien zur Literatur, zur Bibel und zum Film. Ihre Paar- und Geschlechter-Psychologie wirkt in der Inszenierung des Meininger Schauspieldirektors Frank Behnke knackfrisch. Bei diesem Sujet kommen Erinnerungen an vieles auf – von Korngolds „Die tote Stadt“ bis „Rebecca“ und anderes von Alfred Hitchcock. Akustisch bestätigt Christopher Brandt in seiner Musik diese Assoziationen – mit Pianoklängen zwischen Bar und Satie bis zu Score-Zitaten aus Hitchcocks „Vertigo“.
Krimi mit Konturenstift
Licht gleißt durch zwei Fenster in das dunkle Amtszimmer. Christian Rinke hat die Tischränder, Raumecken und sogar den Umriss eines liegenden Menschen am Boden mit Leuchtband beklebt. Das schafft silbrige, graue, anthrazitfarbene Raum- und Lichteffekte mit Bezügen zum Film Noir. In diesem die Intensität verdichtenden Dekor ereignet sich ein prachtvoll realistisches Spiel von drei Frauen und zehn Männern in den Rollen der Geschworenen, des Gerichtsdieners und der Figuren aus Smiths zu Bühnenhandlung werdender Vergangenheit. Behnke und das Ensemble stürzen sich auf jedes Textdetail, schärfen die Konstellationen zwischen den Geschlechtern und den unterschiedlichen sozial-hierarchischen Milieus der Figuren. Mit ehrlichen Mitteln leisten sie und Dramaturgin Deborah Ziegler Hilfe zum Erkennen der komplexen Gestalten. Das lange Schweigen des zu Beginn von einer Ohnmacht übermannten Smith hat nichts Mystisches. Jürgen Hartmann gibt der Figur ein trockenes Insistieren ohne melancholische Heldenattitüde.
In vormodernen Zeiten wäre die ihre moralische Korrektheit akzentuierende Hausangestellte zur belachten Figur verkommen, hier modelliert Nicola Lembach eine plausible Studie aus Selbst- und Standesbewusstsein. Ulrike Knobloch spielt Katherine Mead, aus deren Nüchternheit eine immer stärkere Empathie bricht. Mia Antonia Dressler balanciert als junge Frau subtil und ausgewogen zwischen erotischem Selbstbewusstsein, potenzieller Verführbarkeit und strategischem Vorteilsdenken. Das Ensemble – darunter neue Mitglieder wie David Gerlach und Florian Graf – durchbricht mit einer satten Gesamtleistung Schablonen und Stereotypen. Eine Prise atmosphärischer Coolness schafft Abstand und zwingt zum genauen Beobachten. Es kommt aber zu keiner Auflösung. Denn Eindeutigkeit besteht bei Gmeyner nur über die schillernde Ungewissheit des Lebens und nichts anderes sonst. So gibt es am Ende kein Gefühl der Ernüchterung wie oft bei Krimis, sondern nur bohrendes Unbehagen. Auch deshalb ist diese überfällige Uraufführung ein Theaterabend ohne Patina.