Das zur Nacht illuminierte Allmershaus

Animiertes Heimatmuseum

Das Letzte Kleinod: Heimat&Fremde – Theater über den Marschendichter Heinrich Allmers

Theater:Allmers-Haus, Premiere:20.05.2021 (UA)

„O! Es ist so bitter sich verpfuscht so ganz an unrechtem Platze zu sehen, während sonst die Seele vielleicht aufgeblüht wäre und sich entfaltet hätte.“ So verabschiedet sich der Protagonist aus dem jüngsten Site-specific-Project des Theaters Das Letzte Kleinod: „Heimat & Fremde“ ist die Uraufführung zum 200. Geburtstag des 1902 verstorbenen Hermann Allmers betitelt. Und so befremdlich wie die Aussage wirken auch der Aufführungsort, das skurrile Anwesen des Künstlers, und sein schwülstiger literarischer Nachlass. Zwei Versuche irgendwie Fuß zu fassen in der horizontweiten Wesermarsch, deren Flora, Fauna und Mythen er endlos beschrieben hat. Geradezu patriotisch feierte Allmers die Landschaften an der Nordsee, was ihm regionale Berühmtheit einbrachte.

Für den von seinen Eltern ererbten Hof gleich hinterm Weserdeich hatte er „weder Lust noch Geschick“, verkaufte also einige Ländereien und baute an Stall und Diele eine mit antiken Büsten reich geschmückte, üppig holzgetäfelte, durch Fries-Malerei verzierte und wertvoll möblierte Großbürger-Residenz. Zur Veranda hin prangen Porträts von Lessing und Winckelmann. Drumherum gestaltet ist ein wasserumflossener Romantik-Garten mit Statuen, Reliefs, winziger Zypressenallee, Teich, Buchsbaumhecken und efeuumrankter Laube – einen Schritt hinaus und man steht vor einem goldumkränzten Karl-der-Große-Schrein, den Allmers bauen ließ, weil sein kaiserlicher Held hier mal die Weser überquert haben soll. „Kommt Freunde! Flieht der Stadt Gewühl / kommt in mein stilles Marschenland, / hier weht die Luft so frisch und kühl / an meines Stromes grünem Strand“. So lud Allmers ein und bevölkerte sein idyllisches Anwesen mit Gelehrten und Künstlern aller Gattungen. Er selbst malte, musizierte, philosophierte und schrieb fast sein Leben lang in Rechtenfleth, einer Bauernhofsiedlung mit wenigen 100 Bewohnern, heute Ferienort und Zuflucht vieler reicher Bremer Stadtflüchtlinge. Einst war das Dorf von landwirtschaftlicher und handwerklicher Arbeit geprägt, wo ein Geistesmensch wie Allmers nur Außenseiter sein konnte, allein schon, weil er bei eigenen Ackerbauversuchen den Regenschirm aufspannte, wenn es tröpfelte.

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„Heimat & Fremde“ ist auch ein soziokulturelles Projekt, das die Bevölkerung trotz Corona-Pandemie einbindet, sich dem lokalen Dichterfürsten zu nähern und so zur Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte zu reizen. So sind neben Profischauspielern auch Mitglieder der Theatergruppe des Ortes dabei. Die angereisten Mimen haben von den Einheimischen Plattdeutsch gelernt, die Plattsnacker von den Schauspielern einige Lektionen in Darstellungskunst und Präsenz. Zudem singt ein Chor einige Allmers-Gedichte, etwa die von Johannes Brahms vertonte „Feldeinsamkeit“, und die örtliche Feuerwehr führt einen alten Spritzenwagen vor. Jens-Erwin Siemssen (Buch und Regie) ist selbst 2015 mit dem „Hermann-Allmers-Preis für Heimatforschung“ ausgezeichnet worden und war nun eingeladen, auf dem Anwesen eine Residenzwohnung zu beziehen und quer durch Haus, Garten und Dorf zu recherchieren. Sein Team durfte ebenfalls einziehen und in pandemischer Arbeitsquarantäne proben. Vorab waren mit Rechtenflethern ausführliche Interviews über Allmers und das dörfliche Leben geführt worden. Das Ensemble entwickelte aus den O-Tönen in Werner, Gertrud, Erich, Martha, Franz, Willy, Inge etc. benannten Rollen pralle Volkstheatertypen. Von denen sich Richard Gonlag darstellerisch souverän als Allmers abhebt, eben wie aus einer anderen Welt gefallen wirkt mit seinem niederländischen Akzent und seiner großen, stolzgeraden, aristokratischen Statur. Von einstiger Distanz berichtet Erich (David Schmidt): „Hermann Allmers ist nie Deichgraf geworden, weil man ihn schon immer als Künstler und Dichter eingestuft hatte und er als Bauer nicht so das Sagen hatte.“

Typisch für Kleinod-Produktionen war bisher, mit nur einem Requisit so praktisch wie symbolisch zu arbeiten. Nun durfte Siemssen den Fundus des Museums plündern, das sich im Allmers-Haus befindet. Der ehemalige Hausherr begann in den 1860er Jahren, sich der Volksbildung zu widmen und seine Immobilie als Lehr- und Ausstellungsort zur regionalen Geschichte zu nutzen. Gegründet hat er damit eines der ersten öffentlichen Museen Norddeutschlands. Mit all den dort vorrätigen Kunst- und Alltagsrelikten kann das Ensemble in Dokumentartheatermanier spielerisch an die einstige Erwerbsarbeit in Rechtenfleth erinnern. Etwa das Herstellen von Ziegeln aus Tonboden. Besonders charmant ist wie Lukas Spitzenberg eine wiederkäuende Kuh mimt, der Magd einen Melkschemel hinhält, dessen Beine als Zitzen bearbeitet werden – Sina Große-Beck beschreibt daraufhin das Quarkmachen, zum Beat des Butterstampfens rappt sie auch einige Zeilen. Zu erleben ist zudem wie Reet geerntet, geflochten und damit ein Dach gedeckt wird. Der Kuhdarsteller kostet später die Rolle eines Schweines bis zur letzten Zuckung aus, während andere Mimen die Funktionsweise der fürs Schlachten, Entborsten, Ausweiden und Wurstmachen benötigten Utensilien vorführen. Das Publikum zieht von Spielort zu Spielort um das Haus und durch den Garten. Zwischendurch wird immer wieder aus Allmers Gedichten und Briefen zitiert – mehr oder weniger ironisch ob des pathetisch schwallenden Stils. Eine Auseinandersetzung über das Werk des Marschendichters und seine Heimatschwärmerei findet allerdings nicht statt.

Aufschlussreich verschämt sind die Ausführungen zum ewigen Junggesellen-Dasein des Protagonisten. Inszeniert in wucherndem Grünzeug merkt Martha (Caroline Günst) zu Allmers Mutterliebe an: „Der war so behütet. Dadurch ist es ja sehr oft, dass Männer mehr auf Männer gerichtet sind.“ Woraufhin Allmers keinen Hehl aus dem Lieblingsobjekt seiner Zuneigung macht: „Mit Wilhelm bin ich inniger als je und lerne mit jedem Tag den trefflichen Jungen mehr schätzen und lieben.“ Hans (Margarita Wiesner): „Heute würde man sagen: Mensch, sind die schwul oder was? Nee, die haben einfach nur anders geschrieben.“ Ein Homosexueller als Intellektuellen-Aushängeschild des Dorfes, das scheint immer noch nicht recht vorstellbar.
Aber am Ende der Aufführung stoßen alle Anwesenden mit weizenschrotigem Köm auf „Hermann“ an – und das prächtig funktionierende Zusammenspiel von Laien und Profis. Etwas schmächtig fielen leider die musikalischen Einwürfe aus. Die begehbaren Szenen hingegen erwiesen sich als live animiertes Heimatmuseum im besten Sinne.