Foto: Timothy Fallon und das Wiener Staatsballett in "Die letzte Verschwörung" an der Volksoper © Barbara Pálffy
Text:Frieder Reininghaus, am 26. März 2023
Die jüngste Bühnenarbeit des Münchener Autors und Komponisten Moritz Eggert hält, was ihr Untertitel verspricht. An der Wiener Volksoper nimmt sie die gegenwärtig wohl wirkungsmächtigsten Mythen ins Visier – den Glauben an „alternative Fakten“ und die Überzeugung, diese würden durch die offiziösen Medien unterdrückt. Des Weiteren die von keineswegs unbegründeten Ängsten geschürten Manipulations-Narrative oder den gleichfalls immer wieder von gewichtigen Indizien genährten Verdacht, die Bürger vieler Länder wären nicht nur a bisserl einem „deep state“ ausgeliefert.
Dabei macht es sich der Librettist Eggert nur am Anfang ein wenig einfach. Da bietet er „Beweise“ der Flat-Earther, die die Kugelgestalt der Erde leugnen und an der älteren Scheiben-Theorie festhalten, als leichte Einstiegsdroge an. Während die Handlung Fahrt aufnimmt und im zweiten der beiden Akte nochmals turbulent aufdreht, lässt sich die Produktion in brillantem Verwirrspiel auf vertracktere Fragen ein: Was ist zutreffend, wirklich und wahr in den Wechselfällen der Lebenswirklichkeiten beziehungsweise: Was ist Trug, Lug und Verrat? Was und wem lässt sich denn überhaupt noch trauen?
Absturz aus dem Familienglück
Für seine „Mythos-Operette“, die mit ihrem ironischen Potential und gelegentlich scharfen Sottisen auf die eine oder andere Weise auch aneggern will, hat Moritz Eggert die dominante Figur des Fernseh-Moderators Quant entwickelt. Der erfolgsverwöhnte Journalist führt mit seiner quotenrelevanten Talkshow „Immer wieder mittwochs“ allemal „interessante Menschen“ mit investigativem Erkenntnisinteresse vor. Zu ihnen gehört – Achtung: Schenkelklopfer – eine auffallend adrette junge Teilnehmerin, Lara, die gefragt wird, ob sie wirklich bei jedem Auftritt einen richtigen Orgasmus bekomme. Doch nicht sie, sondern der Studiogast Urban wird für Friedrich Quant zum Problem. Er lauert ihm vor der Studiotür auf und verwickelt den straight denkenden und agierenden Medienmann in quer angelegte Gedankengänge, erschüttert sein Erinnerungsvermögen und seine Selbstsicherheit. Dieser ungebetene nächtliche Gast Urban ist Vollprofi sinistrer Machenschaften. Er entpuppt sich später als ein Mr. Goodman, angeblich oder tatsächlich FBI-Agent, und auf undurchschaubare Weise mit der jungen Lara verbunden.
Timothy Fallon verleiht dem in die größte Lebenskrise und in die Abenteuer des deutsch-österreichischen Alltags gestürzten Quant Figur und Stimme. Dem ersten Augenschein nach ist dieser Tenor mit seinem Embonpoint nicht eben zum genuinen Liebling der TV-Zuschauerinnen prädestiniert, sondern wirkt wie ein ziemlich durchschnittlicher Familienvater. Auch wirkt er mit seiner geschmeidigen, facettenreichen und zielgenau eingesetzten Belcanto-Stimme fast zu ernst für die Unterhaltungsbranche. Freilich entwickelt sich Fallon mit den Quant zugemuteten Herausforderungen rasch zum grundsoliden Leistungsträger und Sympathieträger der von Steven Sloane versiert dirigierten Uraufführung. Sloane steuert sicher durch die ruhigeren Ströme wie durch die Stromschnellen der aus allen erdenklichen Zonen des tonalen Komponierens und aus wirtschaftsfunktionalen Betönungsweisen zusammengeflossenen Musik. Er animiert das Orchester der Volksoper ebenso lustvoll wie das an die Währinger Straße ausgerückte Wiener Staatsballett. Freilich könnte er aus dem großen Ensemble nicht derart viel herauslocken, wenn ihm Eggert nicht eine Partitur aufs Pult gelegt hätte, die große musikalische Artenvielfalt mit bemerkenswertem Feeling für Dosierungen und Timing verbindet.
Zu den gelungensten parodistischen Komponenten der neuen Operette gehört die Einkehr in die Familien-Idylle von Friedrich und Elisabeth Quant nebst deren halbwüchsigen Kindern Sarah und Philipp. Dass sie zerbricht, ist absehbar. Denn der Moderator Quant läuft in der Firma aus dem Ruder und stürzt bis in die Gosse ab, nicht ohne sich zuvor heillos in Lara verliebt zu haben. Er entschwindet der Musterfamilie im Design-Eigenheim rasch aus dem Sinn und wird von Gattin Elisabeth durch den baumlangen, athletischen, besten Freund Binder ersetzt – die Kraftgesten von Aaron Pendleton sind sehens- und hörenswert. Insbesondere auch die Willensstärke und der Stimmeinsatz von Wallis Giunta, die nicht nur als blonde Musterehefrau, sondern auch als russische Investorin Ostrova das Beste gibt (später wird sie zusammen mit dem Kanzler von dem ins Zentrum der Macht vorgedrungenen Pärchen Lara/Quant erschossen).
Regisseurin Lotte de Beer hat im Verbund mit dem Bühnenbildner Christof Hetzer sowie dem ebenfalls für das Video Design zuständigen Roman Hansi und der für die Kostümentwürfe verantwortlichen Jorine van Beek eine raffinierte Mischung aus „echter“ Theaterkulisse und Videokünsten aufgeboten. Sie beschwören die Schönheiten von Park- und Wohnlandschaften mit höhnischer Süße und frappieren immer wieder mit Tableaus der allerschönsten brave new world. Zu großer Form läuft der Sarkasmus auf, wenn sich die Bühne für einen Blick auf Wiener Zulieferer von Fertigpizza-Belägen öffnet: Mit heiterem Faible für eine Portion Kannibalismus wird Kinderfleisch als Ergänzung zu Oliven, Champignons und Kapern aufbereitet. Guten Appetit auch weiterhin!
Nachspiel für das Genre
Der zweite Teil bietet mit eskalierenden Verdachtsoptionen die Konkurrenz diverser Weltverschwörungstheorien und -modelle an, sei es die der Reptilien oder des G6-Mobilfunkanbieters. Aber auch mehr oder minder klandestine Widerstandskonzepte und Konfliktlösungsangebote – sogar auf der höheren Ebene der in mythische Dimensionen entrückten Kritischen Theorie Frankfurter Prägung. „Es gibt einen richtigen Weg in die richtige Welt“ reklamiert die eine wie die andere Seite für sich. Damit der Abend aber auf ein gattungsspezifisch bedingtes lieto fine zusteuern kann, behält der Hauptakteur seinen instinktiven (und wohl auch in Eggerts Sinn) moralischen Kompass. Hier den Coup de théâtre am Ende zu verraten, wäre, als würde man in einer Krimi-Besprechung die Täter*Innen preisgeben. „Die letzte Verschwörung“ sollte man sich – unabhängig vom Faible für einschlägige Theorien oder Idiosynkrasien gegen sie in Lotte de Beers rundum aufgefrischter Volksoper selber ansehen und hören.
Wie zuletzt Dietmar Dath und Felix Leuschner mit ihrem „Einbruch mehrerer Dunkelheiten“ geht es dem Dichterkomponisten Moritz Eeggert strikt um Aktualität der Musiktheaterstoffe und brisante Zeitgenossenschaft. In beiden Fällen zielten die Szenenfolgen auf die inneren Zirkel von Medien und Politik im Lande, wollten sie zur Kenntlichkeit entstellen. Dabei scheint es, als hätte Eggert die glücklicheren Hände gehabt und auf absurde Weise die stimmigeren Figuren entwickelt. Er steht – Kompliment! – in der Tradition des nicht zu Unrecht so lange so beliebten Albert Lortzing, des ersten großen deutschen Dichterkomponisten.
Vielleicht ist es das größte Verdienst dieses Operetten-Gesamtkunstwerks, dass es nicht zum Lehrstück inkliniert, sondern einer bereits so oft abgewunkenen Gattung zumindest zu einer spannenden Nachspielzeit verhilft. Es ist geeignet, in produktiver Weise zur Verunsicherung und zum Wachhalten von uns selbstgewissen Medienleuten beizutragen. Den Rundfunk-Intendantinnen vom Typus Patricia Schlesinger ist in Gestalt der Georgina von Solingen ein Denkmal gesetzt worden. Rascher als man es erwarten durfte.