Foto: Das Ensemble interagiert mit einer unwirklichen Landschaft. © Jan Bosch
Text:Michael Laages, am 2. Februar 2025
Zweiter Versuch nach der Uraufführung – auch das Landestheater in Marburg zeigt „Quälbarer Leib“, den „Körpergesang“ von Amir Gudarzi; und fügt Heiner Müllers „Bildbeschreibung“ hinzu.
Als eine Art Zugabe kehrt er gerade zurück auf einige deutsche Bühnen: der vor drei Jahrzehnten verstorbene Dramatiker Heiner Müller. Ein Autor, der wie eine Art Seismograph all die gravierenden Schwächen und Irrtümer der DDR aufzeigte. Dem schmerzhaften Prozess der neuen Einheit stand er skeptisch, rat- und hoffnungslos gegenüber – fundamental zweifelnd und entsprechend verzweifelt, auch in der Rolle als Nachwende-Intendant am „Berliner Ensemble“. Ob nun womöglich eine kleine Müller-Renaissance beginnt?
Das Theater in Magdeburg riskierte unlängst die Wiederbegegnung mit Müllers „Hamletmaschine“, das Staatstheater in Darmstadt plante bis vor kurzem Müllers deutsches Schmerzens-Panorama „Germania. Tod in Berlin“, entpflichtete aber inzwischen die eigene Haus-Regisseurin (warum auch immer); während am selben Haus Regisseur Klaus Gehre Müllers Text „Der Kuriatier“ als Baustein für eine eigene Produktion nutzte. Und jetzt lädt das Hessische Landestheater Marburg Amir Gudarzis ohnehin schon ziemlich apokalyptischen „Körpergesang“ unter dem Titel „Quälbarer Leib“ auf mit Müllers „Bildbeschreibung“. Das passt bedingt.
Endzeit in schwarz-weiß
Die Hauptlast der Verzahnung beider Texte trägt die Bühnenbildnerin Carolin Mittler. Gudarzis schmerzhafte Beschwörung stellt sie in eine schwarz-weiß gemalte, sehr atmosphärische Guckkasten-Welt. Reichlich Felsen lässt sie uns erahnen, einen Wasserfall, Steine am Strand, Vögel darüber. In jedem Fall: Endzeit und Ausweglosigkeit, wohin die Bühne unsere Augen auch führt. Das ist deswegen so effektiv, weil auch Müllers „Bildbeschreibung“ durch ein Kunstwerk (das die antike Alkestis-Figur, ein japanisches Nō-Spiel und manches mehr zitiert) eine „Landschaft des Todes“ herbei imaginiert. Mitte der 80er Jahre geschrieben, wurde der Text kurz vor der Wende zum Hörspiel-Anlass für Müllers Zusammenarbeit mit der Punk-Band „Einstürzende Neubauten“.
Im Finale der Marburger Wiederbegegnung fantasiert sich Ensemble-Protagonist Sven Brormann hinein in die zentralen Motive um eine (wahrscheinlich) geschundene Frau und einen (möglicherweise) mörderischen Mann. Drum herum werden zerbrochene Gläser, Bäume und Vögel beschrieben. Der Blick führt hinaus durchs Fenster in die wüste, verwüstete Welt. Sehr anstrengend ist das. Aber auch extrem dicht und sehr eindrucksvoll, auch durch die stark strukturierende Schlagzeug-Begleitung von Sven Demandt.
Einen der „Felsen“ hebt Brormann für eine kurze Weile aus Mittlers Bühnen-Unort heraus. Ganz leicht ist er, aus Pappmaché, natürlich. Wer will, mag in diesem Moment ein wenig Ironie entdecken. Die bekommt der ansonsten vorherrschenden Schwerlast des Abends ganz gut.
Starke Einheit
Die Uraufführung von Gudarzis Theatertext hatte im April vorigen Jahres das Landestheater in Detmold gezeigt, das „Quälbarer Leib“ zwei Jahre zuvor mit dem Christian-Dietrich-Grabbe-Preis ausgezeichnet hatte. Auch Jan Steinbachs Uraufführung hatte auf eine Felsenlandschaft irgendwo am Ende der Welt gesetzt (allerdings gebaut, nicht wie bei Mittler gemalt), außerdem auf riesenhaft-antikische Masken für das überwiegend chorisch agierende Ensemble. Mittler verpasst den fünf Darstellerinnen und Darstellern eine starke Einheitsoptik. Alle tragen helle Röcke über Leggings, die wie aus dem Bühnenbild geschnitten scheinen. Alle tragen topfschnittartige Perücken im immer gleichen silberweißen Farbton. Optisch wirken sie wie ein Chor, sprechen aber nicht zusammen.
Die Zuordnung der Figuren ist nicht allzu streng. Aber einige bleiben erkennbar in der Rolle – die Minensucherin zu Beginn etwa, die in lebensgefährlichem Gelände agiert und immer wieder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verliert. Sie werden in die Luft gesprengt. Und dann „regnet“ es Körperteile. Das Schreckensbild wiederholt sich sprachlich in schmerzhafter Regelmäßigkeit.
Antike Gegenwart
Darüber hinaus werden antike Mythen beschworen – Odysseus etwa, der sich vor dem gefährlichen, einäugigen Riesen Polyphem rettet, indem er ihn blind macht, sich danach als „Niemand“ deklariert und so flüchten kann. Bald aber wird „Odysseus“ auch verwechselt mit „Osama“ (also Bin Laden), und beschworen werden die paradiesischen Jungfrauen, die islamistische Märtyrer im Paradies erwarten nach Terror und Tod.
Weiter im antiken Personal: Der erfinderische Konstrukteur Dädalus sieht nicht nur den Sohn Ikarus abstürzen, weil er im Flugversuch der Sonne zu nahe kam. Als Architekt ist er es, der auch die alles Fremde an den Grenzen abweisende „Festung Europa“ baut. Aber da mischt sich Dionysos ein, der Gott der Lust, des Weins und der Theaterkünste. Er wendet den europäischen Gedanken von der Sicherheit fundamental ins Gegenteil. Jetzt ist Europa selbst gefangen in der eigenen Festung. Wer angesichts ausbrechender innereuropäischer Kriege hinaus flüchten will, muss scheitern.
Weil Europa sich abschotten will, sitzt es nun in der Falle. Das ist Gudarzis stärkste und gerade in diesen Tagen herausragend angemessene Idee. Schon für sie lohnt sich jede neue Begegnung mit diesem hoch poetischen, gelegentlich aber durchaus auch überreizten, übersteigerten Text.
Das Team um Eva Lange tat gut daran, der Chor-Idee aus der Uraufführung nicht zu folgen. Das Ensemble agiert immer noch sehr kollektiv, vor allem optisch. Aber das Publikum kann in Marburg deutlicher die Gedanken und Haltungen erkennen, die jeder und jede im Ensemble übernimmt: für manchmal nur sehr kurze Augenblicke. Auch so wird regelmäßig an die ersten Minuten der Aufführung erinnert – da erzählt eine unsichtbare Stimme von Gudarzis Erinnerungen an die eigenen Leiden als junger Mann in den Teheraner Aufständen vor gut zwanzig Jahren, wie der eigene Leib damals „quälbar“ war.
Der Schmerz ist geblieben. In Marburg teilt er ihn nun mit Heiner Müllers Leiden an Deutschland.