Foto: Aus der (amerikanische) Traum: Übrig bleiben in „Nebraska“ nur Zombies. © Isabel Machado Rios
Text:Jens Fischer, am 16. Mai 2021
Was für eine prima Chance, die Vorteile eines live gespielten und kopräsent erlebten Theaterabends gegen die Stream-Erfahrung seiner Verfilmung zu behaupten. Das Theater Oberhausen lud für 15. Mai 2021 ein, ab 17 Uhr im Großen Haus die Uraufführung des bereits als Hörspiel veröffentlichten Stücks „Nebraska“ von Wolfram Höll zu besuchen. Eine interne Veranstaltung war es für Mitarbeiter des Hauses und Medienvertreter. Um 19.30 Uhr startete anschließend der Stream der Inszenierung für jedermann an den Monitoren, Displays, Screens und Bildschirmen daheim.
Also fix den Coronatest absolviert und ab ins Ruhrgebiet. Eine lockere Schüttung von mehr als 30 üppig auf Abstand platzierten Personen ziert maskiert den Zuschauersaal. Wie schön, dort wieder sein zu dürfen. Das Ensemble huscht auf die Bühne als mit Glitzer bestreute US-Gespenster. Einige tragen Krönchen und künden mit Schärpen von ihren Erfolgen, „Miss Rodeo“ oder „Mister America“ steht darauf. Hölls bruchstückhafte Zeilen flottieren erstmal befreit von klaren Rollenzuweisungen durch den Raum, den Bühnenbildnerin Marlene Lockemann mit vier Aufstellern verstellt, darauf prunkt in trostlosen Grünbrauntönen gepinselte Einfamilienhaus-Uniformität. Vorstadtödnis. Die Schauspielenden bringen den Text sukzessive in einer chorischen Darbietung zusammen und nehmen die in der Vorlage notierten Rollen an.
Der Autor hat Lyrics, Metaphern, Figuren und Themen der Songs von Bruce Springsteen – „Nebraska“ heißt sein sechstes, Folk-spartanisches Album – zu seiner Lobpreisung des amerikanischen Traums verdichtet, der zum Alptraum geworden ist. Eine Fundgrube für Springsteinologen. Leider lässt das Stück die Analyse der sozial prekären Verhältnisse als Illusionsbeschleuniger vermissen. Es begnügt sich wie der muskulöse Stadionrock-Dinosaurier auf kunstvoll reduzierte Weise mit den Hüllen von Charakterstudien, die so klischeehaft und leer erscheinen wie das Land selbst. Da sind beispielsweise Max und Mary, typische Springsteen-Helden.
Mary: Und wenn ich dann frage / „Wo warst du so lange“ / dann sagt du nichts / und wenn du dann doch näher kommst / deine Hände mein Nachthemd hochschieben / und wir miteinander schlafen / dann ist da etwas / eine Wut / die hat nichts mit mir zu tun.
Max: So will ich nicht leben.
Mary: So will ich nicht leben / wir können ja einfach den Bus nehmen / Central Line.
Max: Und dann
Mary: Dann schauen wir, wohin er fährt
Amerika ist bei Springsteen nicht im ökonomischen, sondern im menschlichen Sinne das Land der unbegrenzten Möglichkeiten – der heroischen Selbstschöpfung. Auch Hölls Protagonisten glaubten an den amerikanischen Traum, haben ihn aber nie erlebt und nun einfach keine Ahnung mehr, wo dieses gelobte Land sein könnte. Sie sind Arbeiter, Väter und Söhne, Geächtete aus Asbury Park, New Jersey, wo Springsteen einst lebte und die Industrie abgewrackt wurde. Massenarbeitslosigkeit statt Strukturwandel bestimmt die Realität der Menschen, die vom Weg abkommen, die Ausfahrt verpassen, liegenbleiben, in schmuddeligen Bars hocken, weiterbrettern und doch merken, das Ende der Straße erreicht zu haben.
In der Inszenierung von Elsa-Sophie Jach wirken alle wie Zombies des amerikanischen Traumes, treten sie doch mit entsprechenden Kontaktlinsen und in schmuddeligen Tüllkleidern von Vorvorgestern auf (Kostüme: Elisabeth Weiß). Aber die von Springsteen und Höll beschriebene unspezifische Wut lässt alle nochmal kurz vermenschlichen. Sie werfen den Tüll ab, Alltagsklamotten kommen zum Vorschein, während die Bühnenbildelemente zusammengeschoben werden, darauf sind nun Getreidefelder zu sehen. Der Spielraum ist jetzt offen – und alle spüren plötzlich „Born to run“, ein „Hungry heart“, „I’m on fire“ und was die Springsteen-Songs als Szenenüberschriften Hölls noch so an Pathos hergeben. Weg soll es gehen aus dem kleinstädtischen Amerika der ausgebeuteten Arbeiter, hinein in schnelle Autos, raus auf die offene Straße, in die Nacht, Romantik und die erlösende Kraft des Rock ’n’ Roll.
Also verlässt eine Frau ihren Mann und die Kinder, zwei Paare, ein Cop-Duo, eine Kleinfamilie hauen einfach ab und suchen Funken des wahren Lebens in der Zukunft. Ein verzweifelt um Jobs bettelnder Typ sucht derweil die Funken im Gestern, will zurück in sein Leben vor der Entlassung – und läuft Amok wider die Verantwortlichen dafür. Alle Figuren begegnen einander irgendwann, irgendwo in kurzen Szenen. Drehen sich aber stets auf der Drehscheibe und kommen so nicht wirklich vom Fleck. Schnell macht sich Heimweh breit. Motto: ein Schritt vor und zwei zurück. Also werden die Tüllkleider wieder angezogen, traumverloren zurück ins Zombiedasein getanzt. „Jetzt sind wir allein / nur wir drei / sind noch da / du / ich / und / alles / wovor wir / Angst haben.“ Ein wunderbares Schlussbild. Denn so stur sind sie halt, die Menschen bei Springsteen und Höll. Sie können ihrer Herkunft nicht entfliehen, daher suchen sie unverzagt weiter nach einer kleinen Portion Würde, es wird ja immer irgendwie weiterlaufen und sich am Ende jeden Tages stets aufs Neue einen Grund zur Hoffnung vorgaukeln lassen. Am Bühnenrand sitzt dabei Stella Sommer und kommentiert das Geschehen mit Zitaten aus Songs ihrer Band. Die Heiterkeit, sie bastelt auch atmosphärische Sounds, darf leider aber nie prägend eingreifen.
Auch die Bühnendarbietung verliert sich bei der als Premiere angekündigten Vorstellung wie bei einem müden Probendurchlauf im großen Bühnenraum – wie gut Jachs Arbeit sein könnte, zeigt sich erst in dem anschließend online gestellten, vorab produzierten Video der Inszenierung. Die Ausleuchtung wirkt stimmungsdichter, surrealer, die Schauspieler agieren präsenter und präziser, der Rhythmus des Filmschnitts kommt der musikalischen Wortkomposition Hölls näher als die Live-Performance, der Erzählfluss ist um etliches dynamischer dank ständig in Bewegung befindlicher Kameraarbeit, die auch den Aufbruch sich wieder verlierender Sehnsucht emotional zupackender vermittelt. Alles wirkt digital eindringlicher, sprach- und bildpoetischer als in der analogen Variante. Bleibt die irritierende Frage: Macht sich das Theater mit handwerklich und ästhetisch zunehmend besseren, teilweise bereits überzeugenden Verfilmungen bald selbst überflüssig?